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Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.

Titel: Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annelies Laschitza
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entstellten und verfälschten Volkswillen ausdrückten?« 236 Der Wille des Volkes oder seiner Mehrheit sei für die Sozialdemokratie kein Idol, im Gegenteil. Sie wolle den »Volkswillen«
     revolutionieren, sei sich jedoch dessen bewußt, daß sie dabei gegen traditionelle Formen des Bewußtseins in der bürgerlichen
     Gesellschaft ankämpfen müsse. Von einer Identität von Volk und Arbeiterklasse oder des bewußten Teils des organisierten Proletariats
     zu sprechen sei daher abwegig und ebenso illusionär wie die Vorstellung einer konstitutionellen Lösung des Selbstbestimmungsrechtes
     der Nationen, wie sie praktisch 1905 in der Forderung der PPS und der Liberalen nach einer gesetzgebenden Versammlung in Warschau
     bzw. nach gleichzeitiger Einberufung einer allrussischen und einer polnischen gesetzgebenden Versammlung zum Ausdruck kam
     und gescheitert sei. 237
    In das Programm der SDAPR müsse »eine konkrete, jedoch so allgemein gefaßte Formel« eingearbeitet werden, die »die Lösung
     der Nationalitätenfrage in Übereinstimmung mit den Interessen des Proletariats der einzelnen Nationalitäten zuläßt« 238 . Das wiederum fordere, von den tatsächlichen Verhältnissen, von der wissenschaftlichen Analyse allgemeiner Tendenzen der
     kapitalistischen Entwicklung und von den grundsätzlichen Interessen des Klassenkampfes des Proletariats auszugehen.
    |313| Da Rosa Luxemburg nach wie vor die Verwirklichung nationaler Selbstbestimmung unter kapitalistischen Verhältnissen ausschloß,
     konnte sie weder für nationale Losungen in den Programmen und in der Politik anderer Parteien Verständnis aufbringen noch
     Bündnisse um nationaler Forderungen willen tolerieren. Andererseits enthüllte sie zu Recht drastisch, wie schon Henriette
     Roland Holst in ihrer Biographie von 1937 bemerkte, daß »die Hinaufschraubung des Nationalismus als Überspannung des Nationalgefühls
     […] zu einer blendenden schönen Maske werden [könne], hinter der sich gefährliche reaktionäre Tendenzen verstecken« 239 .

Ich habe solche Sehnsucht nach Sonne und Wärme!
    Am 1. Mai 1909 schrieb Rosa Luxemburg an Luise Kautsky, Hans Kautsky und Leo Jogiches, daß sie mit ihrer Arbeit fertig sei,
     sich trotz des strengen Lebenswandels sehr erholt habe und wie erlöst fühle. In Stuttgart schneite es, tags darauf wollte
     sie weiter nach dem Süden ziehen.
    Sie fuhr zunächst bis Zürich, wo sie sich im Hotel zur Post für etwa eine Woche einquartierte. Ihr nächstes Ziel war das nahegelegene
     Schloß Rapperswil, dessen umfangreiche polnische Bibliothek sie bereits als Studentin genutzt hatte. Hier wollte sie über
     die Geschichte ihres Geburtslandes und an der »Einführung in die Nationalökonomie« arbeiten.
    Ihr eigentliches Ziel war Italien. Wie intensiv sie Land und Leute studierte, offenbart Rosa Luxemburgs Brief an Luise Kautsky
     vom 14. Mai aus Genua. Da er literarische Qualität besitzt, sei er hier in großen Teilen zitiert. Die Stadt sei herrlich gelegen,
     »amphitheatralisch auf einer schmalen Küste um eine große Bucht herum, von hinten geschützt durch schöne Hügel, die, jeder
     von einem Fort gekrönt, sich scharf vom – natürlich italienischen – Himmel abheben. Im Hafen unten ist ein üblicher Hafenwirrwarr
     von Schiffen, Barken, Elevatoren, Schmutz, Rauch, Enge und Geschäftigkeit. Die Straßen eng, himmelkratzende und ihrerseits
     meist abgekratzte Häuser, zwei oder vier Fenster breit, von oben bis unten behängt mit bunter Wäsche, so daß bei jedem Zephyrhauch
     überall Hemden, Gatjen, löcherige |314| Strümpfe und dergleichen Frühlingsgegenstände flattern und klatschen. Um zu den höher gelegenen Straßen zu gelangen, gibt
     es von den unteren herauf alle paar Schritte reizende vicoli oder scalite, d. h. Gäßchen, die ganz dunkel, üppig stinkend
     und gerade so breit sind, daß der Durchgang überall durch einen leicht vom Publikum abgewendeten und sich leicht wiegenden
     cittadino versperrt ist, der seine Andacht verrichtet und für ständige Befeuchtung der Gäßchen sorgt, damit die Luft nicht
     zu trocken ist. In den etwas breiteren Sträßchen aber muß man karambolieren zwischen zweiräderigen Karren – andere habe ich
     hier nicht gesehen –, die mit zwei Mauleseln und einem Pferd in die Länge (das heißt eins vors andere) bespannt sind und mit
     Vorliebe links, nicht rechts fahren, so daß ein gut disziplinierter reichsdeutscher Kulturmensch des öfteren plötzlich hinter
     oder über

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