Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Liberalismus,
dessen Verfall in Deutschland unübersehbar sei. Diese Behauptung sorgte natürlich besonders in Bremen, das – anders als Preußen
– von den Liberalen regiert wurde, für Stimmung. Und entsprechende Resonanz fand in der republikanischen Hansestadt auch ihre
Forderung nach einer gesamtdeutschen Republik.
Zunächst hörten etwa 3 500 Leute zu, als Rosa Luxemburg ihren Vortrag um 22 Uhr beendete, waren es 4 000. Laut Polizeibericht
verhielt sich das Publikum im allgemeinen ruhig. Auch die örtliche Parteileitung hatte auf Flugblättern dringend von Demonstrationen
abgeraten. Dennoch strömten ab 22.30 Uhr die Teilnehmer vom Casino zum Marktplatz und schrien »Hurra!« und »Wahlrecht!«. Der
Verkehr kam völlig zum Stillstand. Als die Polizeimannschaften die Leute zur Räumung des Marktplatzes aufforderten, entfernte
die Volksmenge »sich unter Rufen wie ›Pfui‹, ›Bluthunde‹ und dergleichen sowie Gepfeife und Gejohle über die größere Weserbrücke
nach der Neustadt zu«. Solche Situationen wiederholten sich mehrmals. Die »zu verdrängende Menge« habe sich »in wilder Hast
beim Herannahen der Schutzleute« zerstreut. Die Demonstranten waren »meist junge Burschen im Alter bis etwa 20 Jahren«. Als
gegen Mitternacht der Dienst der Polizeimannschaft endete, blieben nur einige Neugierige zurück. Während die Polizeiberichte
behaupteten: »Von der Waffe wurde während des ganzen Abends kein Gebrauch gemacht. Beworfen oder tätlich angegriffenen worden
sind die Beamten nicht«, führten die Sozialdemokraten Beschwerde gegen »Polizeibrutalitäten«. 28
Zehn Tage später, am 17. April 1910, fand in Frankfurt (Main), wo es am 18. Februar zu blutigen Zusammenstößen mit der gewaltsam
vorgehenden Polizei gekommen war, eine der größten Kundgebungen statt. Rosa Luxemburg fürchtete, ihre Stimmkraft könnte nicht
ausreichen. Im Zirkus Schumann, einem festen Saalbau in der Nähe des Hauptbahnhofs, sprach sie zu etwa 7 000 Menschen. An
der gleichzeitig stattfindenden Demonstration nahmen rund 20 000 Frauen und Männer teil. |341| Rosa Luxemburg appellierte laut und vernehmlich: »Wir müssen heute unablässig in den breitesten Schichten des Proletariats
die volle Aufklärung über die Sachlage verbreiten, das Bewußtsein der eigenen Macht in den Massen wecken, die Kampfenergie
stärken und den Samen des Sozialismus mit vollen Händen ausstreuen. Das Weitere überlassen wir getrost dem Gang der Dinge,
mit dem sicheren Gefühl, daß uns die Geschichte in die Hände arbeitet und daß wir Sozialdemokraten in diesem Kampfe, wie bei
jeder Etappe auf unserem Vormarsch zum Sozialismus, Sieger bleiben werden – trotz alledem! (Stürmischer Beifall.)« 29
Die »Volksstimme«, Frankfurt (Main), veröffentlichte das stenographische Protokoll der Rede, die auch als Flugschrift verbreitet
wurde. Die Versammlung sei grandios gewesen, schrieb Rosa Luxemburg an Kostja Zetkin, nun aber falle sie vor Müdigkeit fast
um. Clara Zetkin erfuhr von ihr, »wie großartig die Stimmung überall im Lande ist. Man schaut sich gar nicht nach dem Vorstand
um, die Leute haben ihre eigene feste Meinung und zucken die Achseln über Berlin […] Ich wünschte nur, daß Du in diesen Tagen
auch ins Land gehst, damit Dich die Berührung mit den Massen erfrischt und über jeden Dreck hinweghebt und tröstet.« 30
Am 18. April sprach sie noch in Hanau, und am nächsten Morgen ging es nach Berlin zurück. Am Abend folgte sie zusammen mit
Clara Zetkin August Bebels Einladung zu einer Nachfeier seines 70. Geburtstags und vergnügte sich in fröhlicher Weinrunde.
Dann aber änderte sich ihre Stimmung von einem Tag zum anderen. Hatte sie wie in den vergangenen Wochen zu Tausenden von Menschen
gesprochen, großen Anklang gefunden und von vielen Seiten Zuspruch erfahren, befiel sie nicht selten ein eigenartiges Gefühl
der Leere. »Wenn ich von Zeit zu Zeit unter Menschen bin, so komme ich nachher ganz zerschlagen heim, und die einsame Stille
meines Zimmers kommt mir wie ein Garten voll Duft vor. Die Menschen mögen gut und nett sein, jede Berührung mit ihnen wirkt
auf mich roh und verletzend.« 31 In solchen Momenten verschloß sie sich selbst den meisten Freunden. Durch Karl Kautskys Artikel »Was nun?« zusätzlich verärgert,
nahm sie auch von den sonst häufigen privaten Besuchen bei seiner Familie |342| vorübergehend Abstand. »Die Kautskys sehe ich gar nicht mehr, sie sind
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