Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Erfolge bei den kommenden Reichstagswahlen in den Mitteln
zu beschränken, zumal wenn es um die Durchsetzung aktueller politischer und ökonomischer Forderungen gehe. »Die Masse selbst
soll eben für alle politischen Eventualitäten reif sein und selbst ihre Aktionen bestimmen, nicht aber ›im gegebenen Moment‹
auf den Taktstock von oben warten, ›vertrauend ihrem Magistrat, der fromm und liebend schützt den Staat durch huldreich hochwohlweises
Walten‹, während es der Parteimasse stets geziemt, ›das Maul zu halten‹«, pointierte sie mit Worten von Heinrich Heine. 38
Über Kautskys peinliche Unterscheidung der diversen Spielarten von Streiks vermochte sie nur zu spotten, weil das Leben –
besonders in stürmischen Zeiten – solche Rubriken ohnehin durcheinanderwürfele. »Entweder will man ›eine Volksbewegung größten
Stils‹ hervorrufen, die Losung ›Keine Ruhe in Preußen‹ wahr machen, die Demonstrationen immer mächtiger ausgestalten, dann
muß man mit der Entschlossenheit an die Sache herantreten, bis zum Äußersten zu gehen, der Zuspitzung der Situation, die sich
ergeben kann, nicht ausweichen, alle großen wirtschaftlichen Konflikte für die politische Bewegung ausnutzen, und dann muß
man auch die Losung des Massenstreiks auf die Tagesordnung stellen, sie in den Massen populär machen, denn nur auf diese Weise
werden die Sicherheit, die Kampffreude und der Mut der Massen auf die Dauer erhalten.« 39 Bissig kritisierte sie, daß dieser Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie und der II. Internationale seine Ermattungsstrategie
zum »politischen Testament« von Friedrich Engels erklärte. In Wahrheit wolle er doch nur verschleiern, daß es Furcht vor größeren
Auseinandersetzungen war, was ihn ausschließlich für die Ausnutzung parlamentarischer Mittel plädieren ließ. 40 Sie resümierte: Der wirkliche Effekt seines Verhaltens sei, »daß er eine theoretische Schirmwand für die Elemente in der
Partei und in den Gewerkschaften geliefert hat, die die Massenbewegung im Zaume und sich auf die alten bequemen Bahnen des
parlamentarischen und gewerkschaftlichen Alltags zurückziehen möchten. […] Zum Bremsen, Genosse Kautsky, brauchen wir Sie
nicht.« 41
Nachdem sie den Artikel Mitte Mai der »Neuen Zeit« übergeben |345| hatte, zweifelte Rosa Luxemburg, »ob er richtig ist« 42 . Sie bedauerte, Kostja Zetkin nicht als einen ersten Kritiker bei sich zu haben. Mit ihm korrespondierte sie seit einiger
Zeit wieder intensiv und freundschaftlich. Er sollte, wie beim Abschied im Sommer 1909 versprochen, ihre große Fürsorge für
sein Wohlergehen spüren und wissen, daß sie den »lieben Sohn«, »ihren schönen kleinen Bub«, nicht aus dem Auge und aus dem
Sinn verloren habe, so frei er sich auch fühlen mochte. Ohne selbst auf große Zärtlichkeiten hoffen zu dürfen, stand sie ihm
weiterhin liebevoll zur Seite.
Aber Rosa Luxemburg fand mit ihrem eigenen Anlehnungsbedürfnis ausgerechnet in dem Moment keinen festen Halt, als sie sehr
aufgewühlt war. Ihre scharfe Polemik gegen Kautsky stellte viele ihrer Freunde vor eine Entscheidung: Emanuel Wurm hielt ganz
und gar zu Kautsky, wie ein Lakai. Im »Vorwärts« stand ihm Rudolf Hilferding zur Seite. Eduard Bernstein vertrat in den »Sozialistischen
Monatsheften« ohnehin ähnliche Ansichten. 43 Doch auch Julian Marchlewski zweifelte an der Nützlichkeit der Forderung der Republik und befürchtete, die parlamentarischen
Illusionen könnten anwachsen. 44 Franz Mehring teilte Kautskys Standpunkt von der Unreife der Situation. 45 In einem privaten Brief an Karl Kautsky bemerkte Hans Diefenbach zu den Auseinandersetzungen:
»Ich glaube Rosa so gut wie nur irgendeinen meiner ältesten Freunde zu kennen, aber ich wüßte wahrhaftig nicht, was sie mit
alldem für einen Selbstzweck verfolgen sollte. Wenn man darüber mit Mehrings reden würde, zweifle ich keinen Augenblick, daß
man dort versichert bekäme, R. sei auf Ihre überragende Stellung u. Ihren großen Parteieinfluß eifersüchtig, denn M.’s können
nun einmal, glaube ich, nicht anders, als überall Intrigen wittern, aber ich meine, daß ich Sie beleidigen würde, wenn ich
einen ähnlichen Argwohn bei Ihnen überhaupt nur vermutete, vielmehr glaube ich, daß R.’ Artikel auf jeden halbwegs objektiven
Leser den Eindruck äußerster Schärfe, möglichster Sachlichkeit, versetzt mit einer Anzahl vielleicht schmerzhafter Bosheiten,
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