Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
formulieren, zumal es ihr darum ging, den Erfahrungen und Aktionen
der Arbeiter in Polen gebührend gerecht zu werden. Nähere Auskünfte holte sie sich daher immer wieder von Julian Marchlewski
ein, dem führenden Vertreter des mitgliederstarken Verbandes polnischer Arbeiter (ZRP), der jüngst nach Zürich gekommen war.
Wenn man schweigt – meint der Freund, daß er recht hat
Vom 6. bis 12. August 1893 tagte im Tonhallesaal in Zürich der III. Internationale Sozialistische Arbeiterkongreß, an dem
über 400 Delegierte aus 20 Ländern Europas, Amerikas und |48| Australiens teilnahmen. Seine Tagesordnung umfaßte die ganze Phalanx der in der internationalen Arbeiterbewegung diskutierten
Belange: Maßgaben zur internationalen Durchführung des Achtstundentages (A. Fauquez), gemeinsame Bestimmungen über die Maifeier
(V. Adler), die politische Taktik der Sozialdemokraten, a) Parlamentarismus und Wahlagitation, b) direkte Gesetzgebung durch
das Volk (É. Vandervelde, W. H. Vliegen, W. Liebknecht u. a.), Haltung der Sozialdemokratie im Kriegsfalle (G. Plechanow,
F. Nieuwenhuis, St. Mendelson, W. Liebknecht u. a.), Schutz der Arbeiterinnen (Luise Kautsky), nationale und internationale
Ausgestaltung der Gewerkschaften (A. v. Elm u. a.), die Agrarfrage (C.-V. Jaclard).
Für Rosa Luxemburg wurden es die politisch aufregendsten Tage seit ihrem Eintreffen in Zürich. Sie hatte ihr Mandat von der
Redaktion der »Sprawa Robotnicza« erhalten. Julian Marchlewski war Delegierter des »Verbandes polnischer Arbeiter« (ZRP) und
der »Sprawa Robotnicza«. Auf den bisherigen internationalen Kongressen waren die Polen vor allem von Stanislaw Mendelson und
Ignacy Daszyński vertreten worden. Daszyński hatte 1892 zusammen mit Samuel Haecker u. a. die Galizische Sozialdemokratische
Partei gegründet, die der österreichischen Sozialdemokratie angegliedert war. Die neun Mitglieder zählende PPS-Delegation
wollte die SDKP und die »Sprawa Robotnicza« nicht anerkennen und sah durch sie ihr Monopol auf die Auslandsvertretung der
polnischen sozialistischen Bewegung gefährdet. Mit Verleumdungen versuchten sie die Anerkennung der Mandate Rosa Luxemburgs
und Julian Marchlewskis zu hintertreiben, z. B. verbreiteten sie das Gerücht, hinter der »Sprawa Robotnicza« stecke die zaristische
Geheimpolizei. Laut »Neuer Zürcher Zeitung« vom 10. August 1893 protestierte Rosa Luxemburg – »eine hübsche, junge Dame in
eleganter Toilette, […] in ziemlich gutem Deutsch gegen ihre und ihres Kollegen Ausschließung […]. Sie seien eben solche gute
Sozialisten wie alle andern Delegierten und kämpfen täglich für die Befreiung des Proletariats …« 28
Mutig und selbstbewußt hatte die zweiundzwanzigjährige Studentin am 8. August 1893 das erste Mal das Podium eines internationalen
Kongresses betreten. Unter den Delegierten waren viele in der Arbeiterbewegung geachtete Persönlichkeiten: |49| Friedrich Engels, Eleanor Marx-Aveling, August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Karl Kautsky, Clara Zetkin. Alle kleinlichen Intrigen
über die Mandatsfrage beiseite schiebend, hob sie die politischen Streitfragen hervor und erläuterte Differenzpunkte zwischen
PPS und SDKP.
Rosa Luxemburg erklärte: »Diejenigen, die Euch gegen uns aufwiegeln, wollen keine sozialdemokratische Vertretung zulassen,
um Euch unsere Bewegung in einem anderen Licht darzustellen! Sie wollen uns nicht zulassen, weil wir uns als heutiges Ziel
den politischen Kampf nicht um einen unabhängigen polnischen Staat, sondern um die politische Freiheit gestellt haben, und
wir haben für diesen Kampf den russischen Genossen die brüderliche Hand entgegengestreckt. Das ist eigentlich das Programm
unserer Zeitung. Wenn sie uns sagen, daß die Zeitung anonym ist, so deshalb, weil ihr Redakteur ein legaler Mensch ist und
ins Königreich zurückkehren möchte, um sich dort unserer Sache hinzugeben. Wir schreiben für unsere Arbeiter, und sie kennen
uns. Letztendlich wird jeder eine Zeitung nach ihrem Inhalt und nicht nach dem Namen des Redakteurs beurteilen. Wenn Ihr Eure
brüderliche Sympathie für unsere sozialdemokratische Bewegung zeigen wollt, so rufe ich Euch auf, für unsere Mandate zu stimmen.« 29 Mit ihrer »geradezu fabelhaften Unerschrockenheit und Respektlosigkeit, die sich vor niemand beugte«, erwarb sie sich die
Sympathie von Delegierten wie Karl Kautsky. Nach seinen Erinnerungen »erregte sie schon bei ihrem ersten Auftreten
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