Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
jedes Buch animierte sie, über Kolportage und Kunst nachzudenken und Vergleiche zwischen den Autoren anzustellen.
Nur die Russen – Dostojewski, Tolstoi, Gorki – hätten »einen Roman als Kunstform« – »das andere ist Unterhaltungsliteratur,
Gartenlaube«, schrieb sie Kostja. Stendhal und »Madame Bovary« ließ sie daneben noch gelten, Daudets’ »Sappho« nicht. 196 Nach der Lektüre von »Rôtisserie de la reine Pédauque« revidierte Rosa Luxemburg ihr Urteil über Anatole France: »Die Figur
des Abbé ist ausgezeichnet geschildert und ist bei aller Schäbigkeit doch nicht ohne Größe; auch alle anderen Personen sind
recht lebendig, außer dem Alchimisten, mit dem ich nichts anzufangen weiß. Am besten gefielen mir das Saufgelage bei Cathérine
– wie plump und gemein würde diese Situation in einem deutschen Buch wirken, und wie graziös wird sie durch den eleganten
französischen Geist! – und die Szene, als der verwundete Abbé ins Dorf getragen wird, wirkliche Poesie liegt darauf.« 197
|397| Wie direkt Rosa Luxemburg mitunter Literatur und Wirklichkeit gleichsetzte, spiegelt diese Stimmung: »Gestern und vorgestern
abend las ich einen neuen polnischen Roman von einem der talentvollsten ›Jungen‹. Die Sache ist ein großes Kunstwerk, aber
etwas so entsetzlich Qualvolles, daß Dostojewski dagegen ein Idyll ist. Ich bin die zwei Tage wie zerschlagen, und nachts
erwache ich immerzu vor Angst. Ist es nicht dumm, sich von einem toten Buch so beeinflussen zu lassen? Heute werde ich zur
Beruhigung das Nohlsche Buch weiterlesen. Daraus strahlt mir Sonne und Heiterkeit, gemischt mit Wehmut wie aus Mozarts Musik.« 198 Für Ludwig Nohls Mozart-Biographie schwärmte sie nahezu uneingeschränkt. Die dort geschilderte Familienidylle habe sie »furchtbar
gefreut«: »[…] wenn der kleine ›Wolfgangerl‹ zu Bett ging, sein Vater ihn jeden Abend erst auf einen Stuhl stellen mußte und
mit ihm zweistimmig eine Melodie singen mußte, die der Bub auf einen unsinnigen Text komponiert hatte: Oragniafiage ta ta,
was italienisch klingen sollte, dann küßte er dem Vater ›das Nasenspitzel‹ und versprach ihm, wenn er alt wäre, den Vater
in einer Kapsel mit Glasdeckel immer bei sich zu tragen. […] Wenn wir Mozart gekannt hätten, wir würden ihn sicher als Menschen
auch gern haben.« 199
Neben Literatur und Malerei zogen sie auch Oper, Konzert und Theater immer wieder in ihren Bann: »Die Zauberflöte«, »Figaros
Hochzeit«, »Don Juan«, die »Fledermaus« – Bach, Beethoven, Chopin, Mozart, Bruckner und Lieder von Hugo Wolf; Werke von Wagner
und der »Rosenkavalier« begeisterten sie weniger. Da Kostja sie zu den Aufführungen nie begleiten konnte, wollte sie ihn wenigstens
durch eindrucksvolle Schilderungen daran teilhaben lassen. Die Chöre aus Bachs Matthäuspassion wirkten auf sie »dramatischer
und herber« als die in der h-Moll-Messe: »Sie sind einfach ein Schreien, ein wüster, leidenschaftlicher Lärm, wo ein Wort
zehnmal geschrien wird; man sieht förmlich die Juden mit fliegenden Bärten und gestikulierenden Händen und Stöcken, es ist
mehr ein Gebelfer als Gesang, so daß man unwillkürlich lachen muß. Ich habe nie so wunderbaren Chor gehört. Ich glaube, daß
erst hier gezeigt ist, wie eigentlich der Massenchor behandelt werden muß. Das Volk ›singt‹ nicht, es schreit und tobt. Auch
das Orchester |398| ist ohne jeden Anspruch auf schöne Form, schlicht und kräftig. Kennst Du die Passion?« 200
Im Gespräch mit Clara Zetkin erbaute sich Rosa Luxemburg auf andere Art. Die beiden Frauen stimmten überein in ihrer Vorliebe
für die Naturschönheiten, die sie je nach der Jahreszeit in Claras großem Garten bestaunen konnten. Die Farben- und Formenpracht
der Blumen faszinierte sie ebenso wie die gigantischen Wolkengebilde. Beide versicherten einander gelegentlich listig, daß
es durch sie »doch noch Männer in der Partei« 201 gebe, und wechselten dann meist rasch zu ernsten politischen Themen über.
1911/12 belastete sie aus unterschiedlichen Gründen ein ganz spezielles Problem: der Streit innerhalb der SDAPR um die Freigabe
von Parteigeldern, die Clara Zetkin, Karl Kautsky und Franz Mehring als Depositäre der russischen Partei treuhänderisch verwalteten.
Im Januar 1910 hatte das Plenum des ZK der SDAPR in Paris beschlossen, die Fraktionen aufzulösen, die fraktionellen Organe
einzustellen und den Kampf gegen die Liquidatoren
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