Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
wie die Bolschewiks.« 206
Der Streit in der SDAPR um die politische Orientierung und um die Macht flammte immer wieder auf, das Kräfteverhältnis zwischen
Menschewiki, Bolschewiki und SDKPiL in den Leitungsgremien und Presseorganen veränderte sich ständig.
Jogiches und Warski hatten sich 1910 auf dem Januarplenum des ZK der SDAPR in Paris gegen den Willen der Gruppe um Lenin nachdrücklich
für die organisatorische Einheit der russischen Sozialdemokratie eingesetzt, die ja dringend geboten war, wenn der Wahlkampf
für die IV. Duma bestanden werden sollte. Im Konflikt zwischen Lenins Anhängern und jenen Bolschewiki, die eine erneute offizielle
Spaltung der Partei verhindern wollten, stand Jogiches auf Seiten der sogenannten »Versöhnler«.
Laut Januarplenum war ein Gesamtparteitag einzuberufen, doch die zuständigen Gremien ignorierten diesen Beschluß. Vom 10.
bis 17. Juni 1911 fand auf Initiative der Bolschewiki und unter Befürwortung der SDKPiL eine weitere ZK-Tagung statt. Von
15 im Ausland lebenden Mitgliedern waren acht erschienen. Für die SDKPiL nahmen Leo Jogiches und Feliks Dzierżyński teil,
für die Bolschewiki Lenin, Rykow, Sinowjew; der Jüdische Bund und die Lettische Sozialdemokratie waren mit je einem Mitglied
vertreten, Trotzki und seine Anhänger, die Menschewiki sowie die Liquidatoren fehlten. |401| Hauptthema war die Einberufung einer Parteikonferenz der SDAPR. Zu diesem Zweck wurden eine Organisationskommission und eine
Technische Kommission gebildet. Um diese Beratung entbrannte erneut heftiges Für und Wider. Verteidiger und Gegner bekämpften
sich in Rundschreiben, Flugblättern und Pamphleten. Alle Fraktionen wollten auf dem geplanten Parteitag eine mehrheitsfähige
Anhängerschaft gewinnen und sich bei den deutschen Treuhändern ins beste Licht rücken. Karl Kautsky, dem wie Franz Mehring
und Clara Zetkin eine genaue Orientierung über die SDAPR unmöglich war, versuchte zwischen den Kontrahenten zu vermitteln
und schlug für Juli eine Konferenz aller Gruppen vor, die jedoch ebenfalls nicht zustande kam.
Rosa Luxemburgs Kontakte zu Leo Jogiches beschränkten sich erneut auf das absolut Notwendige ihrer beider Parteiangelegenheiten.
Die Nähe dieses Mannes sei ihr wieder eine kaum zu ertragende Pein, 207 schrieb sie an Kostja Zetkin. Sie ermahnte Jogiches, im Parteistreit nicht übers Ziel hinauszuschießen, da sie spürte, daß
sich Lenins Wut, Empörung und Taktik in erster Linie gegen ihn richtete. Auch Kautskys Vorbehalte waren ihr bekannt: Dieser
Funktionär besitze »in hervorragendstem Maße alle Qualitäten eines Chefs von Verschworenen«, sei »erfindungsreich an Listen,
kaltblütig und von einem eisernen Willen beseelt« und sei vor keinem Hindernis zurückgeschreckt, um an sein Ziel zu gelangen, 208 das dem Leninschen Parteiplan entgegenstand.
Rosa Luxemburg, die Jogiches’ Parteiarbeit mit ihrem theoretischen und publizistischen Talent stets kritisch begleitet hatte,
besaß natürlich eine eigene Meinung über das »russische Kriegsgetümmel« 209 . Um den 25. Juli informierte sie die Familie Kautsky aus ihrer Sicht: »Das energische Auftreten der Depositäre hat auf Lenin
& Co. sehr gut gewirkt: Sie haben sich gefügt und haben das Sprengen der neugeschaffenen Institutionen aufgegeben.
Dafür sind die Menschewiks in ein förmliches Delirium verfallen. Nun rufen sie schleunigst – nachdem sie es 1 ½ Jahre für
unmöglich erklärten – die Plenarsitzung des ZK oder die Parteikonferenz auf eigene Faust zusammen, was natürlich nur der Spaltung
dienen soll, und beschimpfen die Bolschewiks, die Polen und die Einigungskommission in unglaublichster |402| Weise. Der gute Trotzki entpuppt sich immer mehr als ein fauler Kunde. Bevor noch die Technische Kommission sich von Lenin
die finanzielle Freiheit errungen hat, um eventuell der ›Prawda‹ ihr Geld zu geben, schießt Trotzki in der ›Prawda‹ gegen
diese Kommission und die ganze Pariser Konferenz in hanebüchenster Weise los! Er beschimpft direkt die Bolschewiks und die
Polen als ›Parteispalter‹, hat aber nicht eine Silbe gegen das Pamphlet Martows gegen Lenin, das an Niedertracht alles Dagewesene
übertrifft und offensichtlich eine Parteispaltung bezweckt. Mit einem Wort: Es ist schön. Wenn bloß die Konferenz schon zustande
käme! Trotz alledem kann die Parteieinigkeit noch gerettet werden, wenn man beide Seiten zwingt, zusammen die Konferenz
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