Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
äußeren Märkten nicht als notwendige |414| Voraussetzung der Realisationstheorie. Sie verlagerte die Realisierung des Mehrwerts zum Zwecke der erweiterten Reproduktion
ausschließlich in die Zirkulationssphäre des Kapitals mit nichtkapitalistischen Wirtschaftsformationen. Daß der imperialistische
Expansionsdrang sich zu ihrer Zeit vorrangig auf Gebiete in Asien, Afrika, Australien und Amerika konzentrierte, die vom kapitalistischen
Wirtschaftssystem bis dahin nicht oder nur wenig erfaßt worden waren, interpretierte Rosa Luxemburg als eine objektive Gesetzmäßigkeit,
die den Untergang des Systems zur Folge haben werde. Wenn weltweit alle Märkte okkupiert seien, gerate der Kapitalismus in
eine Sackgasse und müsse zusammenbrechen.
Im III. Teil ihres Buches »Die Akkumulation des Kapitals« schöpfte sie das Beweismaterial vorwiegend aus den Praktiken der
Weltkonkurrenz des Kapitals.
Sie bereitete eine Fülle historischen Materials auf, das die Expansions- und Kolonialpolitik der europäischen Großmächte in
Asien, Afrika, Amerika und Australien enthüllte und die Zusammenhänge zwischen imperialistischer Weltpolitik, Militarismus
und Krieg verdeutlichte. Das Anleihesystem der europäischen Großmächte habe unter anderem Ägypten in den Ruin getrieben, da
»die ägyptische Bauernwirtschaft in gewaltigem Umfang vom europäischen Kapital aufgezehrt wurde: Enorme Strecken Grund und
Boden, zahllose Arbeitskräfte und eine Masse Arbeitsprodukte, die als Steuern an den Staat entrichtet wurden, sind in letzter
Linie in europäisches Kapital verwandelt und akkumuliert worden. Es ist klar, daß diese Transaktion, die den normalen Verlauf
einer jahrhundertelangen geschichtlichen Entwicklung auf zwei bis drei Jahrzehnte zusammenpreßte, nur durch die Nilpferdpeitsche
ermöglicht worden war und daß gerade die Primitivität der sozialen Verhältnisse Ägyptens die unvergleichliche Operationsbasis
für die Kapitalakkumulation geschaffen hatte.« 241 Rosa Luxemburg entlarvte barbarische Ausbeutungspraktiken: »Am Nilstauwerk bei Kaliub wie am Suezkanal, beim Eisenbahnbau
wie bei der Errichtung der Dämme, auf den Baumwollplantagen wie in den Zuckerfabriken arbeiteten unübersehbare Scharen von
Fronbauern, sie wurden nach Bedarf von einer Arbeit zur anderen geworfen und maßlos ausgebeutet. Mußte sich auch |415| auf Schritt und Tritt die technische Schranke der fronenden Arbeitskraft in ihrer Verwendbarkeit für moderne Kapitalzwecke
zeigen, so war dies auf der anderen Seite reichlich wettgemacht durch das unbegrenzte Kommando über Masse, Dauer der Ausbeutung,
Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte, das hier dem Kapital in die Hand gegeben war.« 242
Am 9. Januar 1913 gestand Rosa Luxemburg Luise Kautksy, sie habe nach so viel Nationalökonomie »unbeschreiblichen Durst« nach
klassischer Literatur. Weiter schrieb sie: »Ich erhole mich momentan nach dem Buch – an polnischen Arbeiten (gestern z. B.
bis 12 nachts). Ich bin wirklich abgespannt, denn die mehrfachen Korrekturarbeiten neben der Schule haben mich stark heruntergebracht.
Aber meine Polen kennen ja keinen Pardon, und so muß ich mich jetzt in Vaterländisches stürzen. Übrigens ist das Buch für
mich geistig schon erledigt, genau wie nach einem gemalten Bild: Einige Tage Freude und dann Schluß; ich denke nicht mehr
daran.« 243
Davon konnte keine Rede sein, da bald zahlreiche zum Teil kritische Rezensionen erschienen. Nahezu jedes der fast 100 sozialdemokratischen
Presseorgane kam im Februar und März in irgendeiner Form auf diese Publikation zu sprechen. Allein 25 Zeitungen druckten Franz
Mehrings positive Wertung nach, die er in drei Artikeln am 10. Februar 1913 an das sozialdemokratische Pressebüro gegeben
hatte. Er war daraufhin vom Parteivorstand wegen »mißbräuchlicher« Ausnutzung dieser Einrichtung gerügt worden. 244
»Was sagst Du zu der Haupt- und Staatsaktion gegen mein Buch?« fragte die Autorin Clara Zetkin. »Dahinter steckt Hilferding.
Die erste Notiz war wohl von August (Bebel) selbst. Ich lache mir ein[en] Ast. Ärgere Dich bloß nicht!« 245 Karl Korn hatte ihr schon zu verstehen gegeben, es wäre vielleicht richtiger gewesen, Rudolf Hilferdings Buch »Das Finanzkapital«,
das 1910 Aufsehen erregte, wenigstens einmal zu zitieren. Sie hatte darauf verzichtet, da Hilferding ihrer Meinung nach die
Probleme mit Marxschen Manieren umschreibe, aber nicht löse. 246
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