Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
revolutionären Marxismus geleistet als zwei Dutzend Radeks. Zweitens hat Radek nie in der polnischen
Bewegung die geringste Rolle als Vertreter irgendeiner besonderen Richtung gespielt, nie an der Bestimmung der Haltung dieser
Partei in prinzipieller und taktischer Hinsicht im geringsten teilgenommen, überhaupt ist nie in den brennenden Fragen der
Theorie und der Taktik meines Wissens auch nur ein polnischer Artikel von ihm veröffentlicht worden.« 224 Die polnische Partei hätte allzugern das zweifelhafte Vergnügen, sich mit Radek zu befassen, an die deutsche Partei abgegeben,
doch mit diesem Vorschlag keinen Anklang gefunden.
Als die bissige Zuschrift erschien, wurde Rosa Luxemburg mit einem Nierenleiden ins Kreiskrankenhaus Groß-Lichterfelde eingeliefert,
wo sie 14 Tage zubrachte. Im Krankenbett reagierte sie noch gereizter auf den Fall. Alfred Henke versagte sie am 15. September
kategorisch ihre Mitarbeit in der »Bremer Bürger-Zeitung«, solange er im Interesse des »Individuums« Radek in dieser Zeitung
die Beschimpfungen der polnischen Partei dulde und Radek im Redaktionsstab beschäftige. »Ich nenne das keine ernste radikale
Politik, sondern Cliquenwirtschaft, die dem Radikalismus wesensfremd ist.« 225
Auf dem Jenaer Parteitag 1913 verlangte Rosa Luxemburg eine Untersuchung des »Falles Radek«. 226 Der Antrag wurde abgelehnt. Radek war über die Rigorosität, mit der sie 1912/13 gegen ihn vorging, bitter enttäuscht. Rosa
Luxemburg meinte, richtig gehandelt zu haben. Eine Kommission, der Vertreter der Bolschewiki und Menschewiki, des Allgemeinen
Jüdischen Arbeiterverbandes in Litauen, Polen und Rußland sowie der lettischen Sozialdemokratie angehörten, kam im September
1913 zu dem Ergebnis, daß kein Grund vorgelegen habe, Radek vor ein Parteigericht zu zitieren und ihn aus der Partei auszuschließen.
Käte Duncker hatte wohl recht, wenn sie im Rahmen der Auseinandersetzung über Radek zu Rosa Luxemburg sagte, sie sei »ein
schrecklicher Mensch« 227 . Rosa Luxemburg erschrak vermutlich über diese Worte, denn sonst hätte sie ihrer Freundin Clara Zetkin kaum darüber berichtet.
|411| Ich lebte wirklich wie im Rausch
»Wollen wir ein wenig über die Hitze plaudern?« hatte Rosa Luxemburg Mitte August 1911 Luise Kautsky gefragt, die mit ihrer
Familie in den Ferien war. »Du erwartest wohl, hier eine verkohlte Leiche, ein dürres Gerippe vorzufinden, das Dich leicht
an die teuren Züge Deiner verblichenen Freundin aus der Cranachstraße erinnern wird?« ulkte sie weiter. »Platzen sollst Du,
Herr Richter-Leben. Ich bin zwar nicht katholisch, aber quietschvergnügt und wohlbehalten, stehe um 6 auf, nehme zweimal täglich
kalte Bäder (Wanne), fühle mich ganz frisch und arbeite, daß die Späne fliegen.« 228 Sie saß meist um 8 schon an den ökonomischen Studien und verbesserte bzw. erweiterte Passagen ihrer »Einführung in die Nationalökonomie«.
Um den Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion und das Phänomen »Imperialismus« schlüssig erklären zu können, schlug
sie immer wieder im »Kapital« nach, analysierte ökonomische Entwicklungen der jüngsten Zeit, prüfte Arbeiten anderer Zeitgenossen
kritisch und überlegte Gegenthesen. Im November 1911 wähnte sie sich auf dem richtigen Weg, den »Imperialismus und seine Widersprüche«
neu und exakt zu begründen. 229 »Die streng ökonomische Beweisführung führte mich zu Marxschen Formeln am Schluß des II. Bandes des ›Kapitals‹, die mir längst
unheimlich waren und wo ich jetzt eine Windbeutelei nach der anderen finde. Ich werde mich damit gründlich abfinden müssen,
sonst kann ich meine Auffassung nicht aufstellen. Das freut mich als Gedankenarbeit, nimmt aber Zeit in Anspruch.« 230 Woche für Woche verging, und letztlich reifte im Januar 1912 der Entschluß, dem Imperialismus ein gesondertes Buch zu widmen:
»Die Akkumulation des Kapitals«.
Erlöst schrieb sie am 31. Juli 1912: »Gestern um 1 Uhr nachts habe ich meine Arbeit zu Ende gebracht. Jetzt muß ich nur einige
Einschaltungen machen und das ganze durchsehen.« 231 Diesen Tag hatte sie seit langem herbeigesehnt. Wie ihre Briefe verraten, war sie zuweilen verunsichert, trieb sich jedoch
immer wieder selbst voran. Am 10. Mai 1912 schrieb sie Kostja Zetkin: »Mir geht es jetzt so, wie wenn ich ein Bild male: Bald
scheint es mir, es sei ausgezeichnet, und bald, es sei vollkommener |412| Dreck. Aber ich hoffe doch,
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