Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
sie sei gut. Jetzt mit Energie weiter! Ach, wenn ich bloß nicht anderes Zeug machen müßte daneben
(Polnisches, für Mehring etc.). Ich habe noch nie so systematisch und ausdauernd gearbeitet. Aber diesmal lasse ich nicht
locker, bis die letzte Zeile geschrieben ist.« 232 Sie schaffe hier zehn bis zwölf Seiten täglich, denn sie überlege viel.
Rückblickend empfand sie die Zeit, in der die »Akkumulation« entstand, als eine der glücklichsten ihres Lebens. »Ich lebte
wirklich wie im Rausch, sah und hörte Tag und Nacht nichts als dieses eine Problem, das sich so schön vor mir entfaltete,
und ich weiß nicht zu sagen, was mir höhere Freude gewährte: der Prozeß des Denkens, wenn ich eine verwickelte Frage im langsamen
Hinundherwandeln durch das Zimmer wälzte […], oder das Gestalten, das literarische Formen mit der Feder in der Hand.« 233 Auch die häusliche Atmosphäre beglückte sie: »Auf dem Plüschsessel mir gegenüber lag Mimi und schlief oder schaute mich an
und schnurrte, manchmal betrachtete sie die Spatzen auf dem Balkon. Auf dem kleinen Tischchen habe ich einen schönen blühenden
Hyazinthentopf (weiß), und auf dem Tisch in der Sonne habe ich meinen Briefbeschwerer, das Kristallprisma, gelegt, davon zerstoben
Dutzende Regenbogenspritzer auf alle Wände und Decke, und es war so bunt und heiter im Zimmer.« 234
»Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus« erschien im Januar 1913 im »Vorwärts«-Verlag
in einer Auflage von 2 000 Exemplaren.
Seit vielen Jahren hatte die Autorin statistisches Material über die Entfaltung der Produktivkräfte sowie Informationen über
neue Betriebsformen bis hin zu Kartellen und Trusts analysiert und Konflikte bei der Erschließung von Rohstoffquellen, Absatzmärkten
und Kapitalanlagesphären weltweit beobachtet. Entscheidend sei doch, schrieb sie, »daß es sich bei den Vorgängen des wirtschaftlichen
Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft trotz seiner wirren Oberfläche und scheinbarer Herrschaft der individuellen Willkür
im Grunde um ebenso streng gesetzmäßige Zusammenhänge handelt wie etwa bei den Vorgängen der physischen Natur« 235 .
Als typische äußere Erscheinungen des Imperialismus betrachtete |413| Rosa Luxemburg den Wettkampf der kapitalistischen Staaten um Kolonien und Interessensphären, um Anlagemöglichkeiten für das
europäische Kapital, das internationale Anleihesystem, den Militarismus, den Hochschutzzoll, die Vorherrschaft des Bankkapitals
und der Kartellindustrie in der Weltpolitik. 236
Sie wollte im Sinne der Marxschen ökonomischen Lehre, so hob sie ausdrücklich hervor, die verborgenen Gesetze aufzeigen, die
hinter Anarchie und Wirrwarr der Konkurrenz von Privatwirtschaften stehen. Nach ihrer Meinung ließ sich »die eigentliche Wurzel
des großen und bunten Komplexes von Erscheinungen des Imperialismus« durch Analyse der kapitalistischen Akkumulation »packen«. 237 Die Marxschen Schemata könnten den Reproduktionsprozeß des Kapitals nicht hinreichend erklären, da sie von der ausschließlichen
Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise ausgingen und nur die Existenz der Bourgeoisie und des Proletariats voraussetzten.
Aus dem Widerspruch zwischen dem schnell steigenden Nationalreichtum und der viel langsamer wachsenden Konsumtion des Volkes
schloß sie, »daß die kapitalistische Akkumulation zu ihrer Bewegung nichtkapitalistischer sozialer Formationen als ihrer Umgebung
bedarf, in ständigem Stoffwechsel mit ihnen vorwärtsschreitet und nur so lange existieren kann, als sie dieses Milieu vorfindet« 238 .
Das Hauptmerkmal des Imperialismus bestand für Rosa Luxemburg daher »in der Ausbreitung der Kapitalsherrschaft aus alten kapitalistischen
Ländern auf neue Gebiete und im wirtschaftlichen und politischen Konkurrenzkampf jener Länder um solche Gebiete« 239 . Folglich definierte sie in der »Akkumulation des Kapitals« den Imperialismus als politischen »Ausdruck des Prozesses der
Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus« 240 .
Rosa Luxemburg meinte, dort mit einer Kritik bei Marx ansetzen zu müssen, wo sie Diskrepanzen zwischen gegenwärtigen Entwicklungen
und den Marxschen mathematischen Formeln und Schemata des kapitalistischen Reproduktionsprozesses feststellte. Dabei begriff
sie die Abstraktion vom Außenhandel, von den
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