Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
demokratischen Milizsystem und verlangte von der Partei,
die internationalen Antikriegsbeschlüsse einzuhalten. Preußen-Deutschland, eine »Hochburg der Reaktion« 7 könne nicht auf parlamentarischem Wege erschüttert werden. 8 Die Schwerkraft sozialdemokratischer Politik in die Massen zu verlagern 9 sei angesichts der seit 1913 entfesselten »patriotischen« Kriegsbegeisterung dringender denn je. Früher oder später müßten
alle Absichten und Schandtaten des Militarismus am Widerstand der Arbeiterklasse zerschellen wie Glas am Granit – vorausgesetzt,
sie wisse ihre Macht zu gebrauchen. 10 »Nicht aus einem unerwarteten oppositionellen Johannistrieb des bürgerlichen Parlaments, nur aus dem außerparlamentarischen
Druck und der Machtentfaltung der Volksmassen kann im heutigen Deutschland jeder Fußbreit politischen Fortschritts und bürgerlicher
Freiheit erstehen – diese einfache Lehre bei jeder Gelegenheit unbeirrt zu verkünden muß unsere vornehmste Aufklärungsarbeit
sein.« 11
Solche Gedanken bewegten Rosa Luxemburg, als sie im linksorientierten Wahlkreis Hanau-Bockenheim-Gelnhausen-Orb, der sie delegiert
hatte, über den Jenaer Parteitag berichtete. Am 24. September sprach sie in Hanau, am 25. in Fechenheim bei Frankfurt am Main:
»Bei einem eventuellen Kriege sollten die Arbeiter sich erst besinnen, ob sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten, auf
ihre gleichgesinnten Brüder im Feindesland zu schießen.« Um den allgemeinen Zusammenschluß der Arbeiterschaft nicht zu gefährden,
sei es unbedingt nötig, »im Kriegsfalle ein entschiedenes: ›Nein, auf unsere Brüder schießen wir nicht!‹ auszusprechen und
durchzuführen« 12 . Diese »internationalistischen« Parolen lockten zwei Redakteure der evangelischen »national« ausgerichteten »Frankfurter
Warte« in die Versammlung am 26. September in Frankfurt-Bockenheim. |437| Geschickt legten sie auf Rosa Luxemburgs zweistündige, stürmisch begrüßte Rede ein nationalistisches Raster und leiteten eine
Diffamierungskampagne ein.
In ihrem Leitartikel vom 27. September forderte die »Warte« den Staatsanwalt auf, Rosa Luxemburg des Hochverrats anzuklagen.
In einem anderen Artikel dieser Ausgabe stand der Satz, der als Grundlage für die Anklage diente: »Wenn uns zugemutet wird,
die Mordwaffe gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, so erklären wir: ›Nein, das tun wir
nicht.‹« 13
Am 1. Oktober 1913 reagierte die »Leipziger Volkszeitung« mit dem Artikel »Staatsanwalt hilf!«: »Die Genossin Luxemburg soll
sich nach der Frankfurter Warte, die von der Kreuzzeitung schleunigst nachgedruckt wird, der Aufforderung zum Hochverrat schuldig
gemacht haben, weil sie in einer Frankfurter Versammlung angeblich die Arbeiter aufgefordert hätte, im Falle eines Krieges
sich zu weigern, ›die Waffen gegen ihre französischen oder anderen Brüder zu richten‹. Die brave Kreuzzeitung pflichtet dem
Frankfurter Blättchen bei, wenn dieses zetert: Man fragt sich unwillkürlich: In welchem Staate leben wir eigentlich? Haben
wir noch Instanzen, die dafür sorgen, daß die Sicherheit des Reiches gewährleistet bleibt?«
Dem Frankfurter Oberstaatsanwalt hatte man die »Frankfurter Warte« vom 27. September anonym zugesandt. Bereits am 30. September
leitete er gegen Rosa Luxemburg ein Ermittlungsverfahren wegen Vergehens gegen § 110 StGB ein. 14 Am 27. November 1913 lag die Anklageschrift vor.
Nachdem Rosa Luxemburg am 30. September in Mainz auf einer überfüllten Parteiversammlung von einigen Rednern Widerspruch gegen
ihre Äußerungen über Parlamentarismus und Massenstreik erfahren hatte, reiste sie nach Berlin zurück. Sie nahm unverzüglich
ihren Unterricht an der Parteischule auf, hielt einen vom Bildungsausschuß organisierten Vortragszyklus »Imperialismus und
Militarismus« und berichtete weiter über den Jenaer Parteitag. Auch ihre Kontakte zu französischen, dänischen und tschechischen
Sozialdemokraten sowie ihre Verpflichtungen gegenüber der polnischen Partei vernachlässigte sie nicht.
Die nächste Reise führte sie als Delegierte der SDKPiL am |438| 13. und 14. Dezember 1913 zur Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros nach London. Selbst hier standen – am Vorabend
des ersten Weltkrieges – lediglich parteiinterne Probleme auf der Tagesordnung: Fortsetzung der Verhandlungen über die Einigung
der sozialistischen Parteien Englands,
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