Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Umfeld der Regierung kamen Angst und Bedenken auf. Die Staatsanwaltschaft
sah sich gezwungen, gegen den Protest der Angeklagten und ihrer Anwälte den Prozeß am 3. Juli 1914 auf unbestimmte Zeit zu
vertagen, damit |454| der Kriegsminister die Zeugenaussagen prüfen lassen könne. 52 Unmittelbar vor Beginn des ersten Weltkrieges hatte dieser Herr Kriegsminister allerdings »Wichtigeres« zu tun.
Franz Mehring charakterisierte den Prozeß als »verlorene Schlacht« des Kriegsministers und der Staatsanwaltschaft. 53 Auch in der bürgerlichen Presse wurden Vorwürfe erhoben. Die »Frankfurter Zeitung« sprach von der »größten Ungeschicklichkeit
des Kriegsministers«. In der »Morgenpost« hieß es: »Wollte etwa Herr v. Falkenhayn auf dem Wege eines Beleidigungsprozesses
das Heer von der schweren Anklage reinigen, daß in seiner Mitte sich schwere Mißhandlungen ereignen? Ein Versuch mit untauglichen
Mitteln. Prinz Georg, der nachher auf Sachsens Thron saß, und Erbprinz Bernhard, der heute Herzog von Meiningen ist, haben
schließlich keine andere Behauptung aufgestellt als die Führerin der Sozialdemokratie. […] Und sie haben ihre Behauptungen
mit Beweisen illustriert. Zu beweisen war und ist auch Rosa Luxemburg erbötig, und nicht sie und ihre Verteidiger, sondern
der Kriegsminister und sein Staatsanwalt sind es, die eine Vertagung gewünscht und durchgesetzt haben, deren Dauer von sehr
unbestimmter Länge sein dürfte …« 54
Abermals informierten Rosa Luxemburg und ihre Verteidiger in Partei- und Volksversammlungen rasch und gründlich über die Anklage
und deren Vertagung. Paul Levi, der z. B. in Stuttgart, Hanau, Kiel, Chemnitz und Frankfurt (Main) sprach, wurde von der versierten
Agitatorin Rosa Luxemburg belehrt: »Volksversammlung hat andere geistige Resonanz als Gerichtssaal, und zu viel Gründlichkeit
ist schon manchem Redner zum Verhängnis geworden.« 55
Der Aktionsausschuß des Berliner Sozialdemokratischen Vereins betraute Hugo Heinemann mit einem »Gutachten« zur Vertagung
des Prozesses und zur Einberufung von Versammlungen. Heinemann riet ab, da man nicht in ein »schwebendes Verfahren« eingreifen
dürfe. Außerdem eigneten sich so diffizile Rechtsprobleme nicht zum Vortrag vor Volksversammlungen. Daraufhin teilte Wilhelm
Pieck Paul Levi mit, daß der Aktionsausschuß Versammlungen zum zweiten Rosa-Luxemburg-Prozeß ablehne. 56 »In mir kocht es, wenn ich an dieses Zeug denke« 57 , empörte sich Rosa Luxemburg. Der Wahlverein |455| Steglitz für die westlichen Vororte organisierte dennoch im »Birkenwäldchen« in Steglitz-Lichterfelde, Schützenstraße, eine
Veranstaltung, auf der Paul Lensch und Paul Levi zum Thema »Sozialdemokratie und Soldatenmißhandlungen« sprachen. Auch andernorts
wurde gegen die Absicht des Kriegsministers protestiert, die Zeugen vor Kriegsgerichte zu stellen und so dem Zivilgerichtsverfahren
gegen Rosa Luxemburg vorzugreifen.
Der Prozeß wurde vertagt und am 17. August teilte der Erste Staatsanwalt beim Landgericht II in Berlin dem Justizminsiter
mit, daß der Kriegsminister unter dem 4. August den Strafantrag zurückgenommen habe und durch Beschluß der Strafkammer vom
8. August das Verfahren eingestellt worden sei.
Rosa Luxemburg blieb die politisch-moralische Siegerin. Die sozialdemokratische Presse hatte ihrem Anliegen diesmal breiten
Raum gewidmet. Ab Juni 1914 gehörte sie dem Zentralvorstand der Sozialdemokratie von Groß-Berlin an. Die Beziehungen zu ehemaligen
Parteischülern wie Clara Törber, Walter Stoecker, Rosi Wolfstein, Jacob Walther, Christian Döhring und deren Parteiorganisationen
festigten sich. Leo Jogiches und Clara Zetkin, Julian Marchlewski und Franz Mehring, Luise und Hans Kautsky, Kostja Zetkin,
Hugo Faisst, Hans Diefenbach und dessen Freund Gerlach war sie seit langem verbunden. Und mit Paul Levi, Kurt Rosenfeld, Mathilde
Jacob und Karl Liebknecht wuchsen ihr neue Freunde zu. In Versammlungen und persönlichen Gesprächen hatte sie in ganz Deutschland
viele für ihre Ideale begeistert und in den meisten Ländern Europas aufrechte Mitstreiter gewonnen, mit denen sie in der II.
Internationale zusammenarbeitete.
Ich muß an das heiße, schwüle Berlin gekettet bleiben
Dennoch bedrückte Rosa Luxemburg die Sorge über den jähen Abbruch des Prozesses, der über sich hinausweisen sollte und dessen
Vorbereitung so große Anstrengungen gekostet hatte. Fast hätten ihr die
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