Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Verhandlungstage im Gericht den Blick auf die seit
dem Mord in Sarajevo am 28. Juni drohende Weltkriegsgefahr verstellt. Von der »afrikanischen Hitze« dieses |456| Sommers gequält, beneidete sie im stillen die vielen Urlauber, die Berlin den Rücken gekehrt hatten. Das sonst so ersehnte
Alleinsein mißfiel ihr jetzt, und was zu erledigen war, ging nur schleppend voran. Für einen kurzen Abstecher zur erkrankten
Luise Kautsky nach Rom fehlten ihr »zwei Kleinigkeiten: Geld und Zeit, namentlich letztere« 58 .
Die Reisen, die ihr bevorstanden, waren mit Arbeit und Aufregung verbunden. Das Internationale Sozialistische Büro lud – wie
Ende 1913 beschlossen – für den 16. bis 18. Juli nach Brüssel zu einer »Russenkonferenz« ein. Einziges Tagungsthema war die
Wiederherstellung der Einheit der SDAPR. Alle Gruppierungen waren vertreten: das ZK der SDAPR (Bolschewiki), das Organisationskomitee
(Menschewiki) mit den ihm angeschlossenen Organisationen (dem Kaukasischen Gebietskomitee und der Gruppe »Borba«), die Dumafraktion,
die Plechanowsche Gruppe »Jedinstwo«, die Gruppe »Wperjod«, der »Bund«, die Sozialdemokratie Lettlands, die Sozialdemokratie
Litauens, der Hauptvorstand der polnischen Sozialdemokratie, die polnische sozialdemokratische Opposition (»Rozlamowcy«),
die PPS (»Lewica«). Die Führung der SDKPiL delegierte Rosa Luxemburg in letzter Minute. Lenin war in Krakau geblieben, er
ließ sich durch seine Mitarbeiterin Inès Armand vertreten. In der am Schluß angenommenen Resolution, die Karl Kautsky ausgearbeitet
hatte, wurde festgestellt, es gebe in der Sozialdemokratie Rußlands keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten, die der
Einheit im Wege stünden. Die Vertreter der Bolschewiki und der lettischen Sozialdemokratie boykottierten die Abstimmung, da
die Beratung sich auf einen Meinungsaustausch beschränken sollte. Die anderen Gruppen beschlossen, sich mit einem Aufruf »An
alle Arbeiter Rußlands« zu wenden. Die Redaktion übernahm eine gewählte Kommission, der Plechanow, Martow und Trotzki angehörten.
Laut Niederschrift des Büros gab Rosa Luxemburg einen kurzen Überblick über die Spaltung der polnischen sozialistischen Bewegung
und erläuterte die programmatischen Differenzen zwischen der SDKPiL und der PPS, vor allem deren unterschiedliche Standpunkte
zur Unabhängigkeit Polens. Die Geschichte habe schließlich der sozialdemokratischen Partei recht gegeben. Da die PPS-Lewica
– seit 1906 eine eigenständige |457| Partei – inzwischen zu denselben Schlußfolgerungen gekommen sei, wäre jegliches Hindernis für die Einheit beseitigt. 59
Nach der Rückkehr aus Brüssel schrieb sie an Paul Levi: Es »war eine harte Arbeit, aber alles ging nach Wunsch, ich bin sehr
zufrieden. K. K. [Karl Kautsky] schickte sich in die Lage und machte keine Schwierigkeiten mehr. Falkenhayn hat auch hier
gut gewirkt.« 60 Sie fühlte sich weiter »wie in einer Mühle«, wurde sie doch von Russen und Polen »belagert« und mußte sich um eine exakte
Berichterstattung kümmern. Wichtig war ihr vor allem die genaue Wiedergabe der polnischen Resolution, die im »Vorwärts« vom
21. Juli zitiert wurde: »Das Exekutivkomitee des Internationalen Büros erwartet, daß die Einigkeit zwischen der Sozialdemokratie
Polens und Litauens und der PPS (Lewica) baldigst verwirklicht wird und hofft, daß sich in dem von den beiden Parteien beschlossenen
Meinungsaustausch das Vorhandensein einer gemeinsamen Auffassung ihres Programms und ihrer Taktik herausstellen wird. Was
den inneren Konflikt im Schoße der Sozialdemokratie Polens und Litauens betrifft, so ist das Exekutivkomitee der Auffassung,
daß derselbe in einer vernünftigen Frist beigelegt werden muß.«
Camille Huysmans, Sekretär des Internationalen Sozialistischen Büros, war mit dem Verlauf der Konferenz zufrieden. Er hoffte,
auf der nach Wien einberufenen Sitzung der Sozialistischen Internationale würden sich Lenin und seine Anhänger mit den übrigen
Parteien und Organisationen einigen und die polnischen und litauischen Sozialdemokraten ihre internen Zwistigkeiten beenden. 61
Die relativ ruhige Stimmung, die im Internationalen Sozialistischen Büro und in den Parteien der Internationale herrschte,
wurde erst durch das Ultimatum Österreichs an Serbien am 23. Juli erschüttert, das einer plötzlichen Kriegserklärung gleichkam.
Huysmans entschied am 24. Juli, sofort eine Vollversammlung des
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