Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
|448| ] drei Stunden über die Partei vorgejammert – Stadtverordnetenjammer, Berliner Jammer etc. etc. Heute früh hat Klara einen
ihrer Wutausbrüche gehabt und wieder einmal gedroht, aus der Partei auszutreten. Daraufhin nahm ich eine herrliche Dusche,
zog mich an und ging ins Feld. Südende badet in Grün, Weiß und Rosa. Die Sonne strahlte, und im Vorgarten schlug (um 10 Uhr
früh!) die erste Nachtigall. Übrigens habe ich für die Nachtigall gar nichts übrig, wie für die meisten weltbekannten Schönheiten.
Gerade ihre vielen Register und der stete Wechsel ihres Gesangs machen auf mich den Eindruck eines künstlichen Spielzeugs.
Viel inniger wirkt auf mich das eintönige Quirlen der Lerche (auch sie hörte ich schon im Felde heute). Und erst, wenn mein
lieber Pirol kommt und in weichen, feuchten Tagen seinen kurzen aufleuchtenden Ruf schmettert! Dann geht mir im Herzen das
helle Licht und Wonne auf – wie wenn mir mein Liebling tief in die Augen blickt … Süßer!« 37
Was mochte sie an Paul Levi, der zwölf Jahre jünger war als sie, so fesseln? Es wird ihr Geheimnis bleiben, da beide in der
Öffentlichkeit stets die Form einer freundschaftlichen Beziehung politisch Gleichgesinnter wahrten, die komplizierte Prozeßangelegenheiten
miteinander ausfochten. Rosa Luxemburgs Briefe an Paul Levi behalten nach Elżbieta Ettinger selbst in Augenblicken des Entzückens
die Frische trockenen Weines. 38 Diese Biographin Rosa Luxemburgs spricht zu Recht von einer erwachsenen Beziehung zu einem erwachsenen Mann. Im Unterschied
zu dem um drei Jahre jüngeren Kostja Zetkin stand Paul Levi mitten im Berufsleben. Der Prozeß gegen Rosa Luxemburg hat ihn
über seine bisherige Wirkungsstätte hinaus bekannt gemacht. Er teilte Rosa Luxemburgs antimilitaristische Grundhaltung, forderte
jedoch nicht wie sie eine Miliz, sondern politische Bürgerrechte für die Soldaten der Armee, die als Machtorgan des gesamten
Volkes seine Freiheit und Unabhängigkeit nach innen und außen sichern müsse. Paul Levi war kein Theoretiker, aber ein weitsichtiger
Stratege und Taktiker, vielseitig gebildet und tief mit den kulturellen, sozialkritischen und republikanischen Traditionen
seiner Familie verwurzelt. Er konnte mit großer Geduld zuhören, kluge Ratschläge geben und helfen.
»Levi hing mit schwärmerischer Liebe und Bewundung an |449| ihr; unter ihrem Einfluß entfaltete er seinen Stil und lernte, seine ganze Kraft in den Dienst der revolutionären Arbeit zu
stellen.« 39 Für Rosa Luxemburg war er Schüler, Anwalt, für einige Zeit Geliebter und auf Dauer Freund.
Der Anwalt und Freund waren gefragt, als ein neuer Prozeß vorbereitet werden mußte. Anfang Mai 1914 erhielt Rosa Luxemburg
mehrere Vorladungen, am 5. Mai eine wegen der Behandlung der Revision vor dem 1. Strafsenat des Reichsgerichts, die zunächst
für den 27. Juni vorgesehen war und später auf den 22. Oktober vertagt wurde. Am 13. Mai kam eine Vorladung für den nächsten
Tag, an dem sie Paul Levi sofort informierte: »Liebling, denk Dir, wie famos! Es ist ein Strafantrag des Kriegsministers von
Falkenhayn wegen Beleidigung des Offiziers- und Unteroffizierskorps, weil ich in der Freiburger Versammlung am 7. März gesagt
habe, die Soldatenmißhandlungen stehen auf der Tagesordnung und die ›Vaterlandsverteidiger‹ werden mit Füßen getreten. Darin
sei ein Vorwurf der Pflichtverletzung für die Offiziere ausgesprochen. Wie gefällt Dir diese Anklage in der jetzigen Zeit?!
Ich habe natürlich zugegeben, die Äußerungen getan zu haben, und zwar, um den Leuten den Rückzug abzuschneiden. Die Kerle
sind wohl von allen guten Geistern verlassen. Denk Dir, was man alles bei einer solchen Verhandlung an Material ausbreiten
und wiedergutmachen kann, was unsere Esel im Reichstag versäumt haben! Ich bin in so freudiger Stimmung, daß ich Dir um den
Hals fallen möchte, wenn ich Dich hier hätte. Kurtchen [Rosenfeld] ist auch glücklich über die bevorstehende Schlacht. Wo
die Verhandlung stattfindet, ist noch nicht klar, wahrscheinlich aber hier in Berlin.« 40 Am 14. Mai erfuhr sie von Kurt Rosenfeld von einem dritten Verfahren gegen sie.
Die Kerle sind wohl von allen guten Geistern verlassen
Als Rosa Luxemburg am 22. Mai 1914 Anklage Nr. 2 erhielt, teilte sie Paul Levi postwendend mit: »Liebling, die Anklage ist
da: vor dem Landgericht II Berlin (die schlimmste Strafkammer Berlins, wie mir R[osenfeld] sagte), Kläger
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