Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
alltäglichen Pflichten – Briefen,
»Korrespondenz«-Artikeln, dem Sammeln von Zeitungsausschnitten, Besprechungen, Telefonaten – Ruhe für zwei größere Arbeiten
zu finden: ihre »Einführung in die Nationalökonomie« und für ein Buch über den Krieg. Vor allem müsse sie sich »ständig noch
gegen Karl L[iebknecht]« wehren, der sie täglich mit sich herumschleppen wolle – alle Zeit- und Raumdispositionen durcheinanderwirbele
– »mit besten Absichten, aus denen aber schließlich fast nichts herauskommt, [als] seine und meine Tage totzuschlagen. Er
ist ein ausgezeichneter Kerl, aber so dauernd leben könnte ich nicht; ich bin deshalb glücklich, wenn ich wieder allein mit
Mimi still zu Hause sitze.« 101
Zur Besinnung kommen hieß für Rosa Luxemburg im Herbst 1914, größere Klarheit über die Lage in der sozialistischen Bewegung |474| nach Kriegsausbruch zu gwinnen und sich »so gut und so verdeckt wie möglich« mit Mitstreitern, Redaktionen und Ratsuchenden
auszutauschen. Sie vertraute darauf, daß nicht alle wie die einst geachteten Sozialisten Georgi Plechanow, Jules Guesde, Edouard
Vaillant oder Parvus zu nationalistischen Positionen übergingen bzw. Regierungsverantwortung mittrugen. Ihr Brief vom 12.
Oktober an den Schweizer Sozialisten Carl Moor enthält ein differenziertes Urteil über die »innere Entwicklung« der deutschen
Sozialdemokratie im Krieg. Moor hatte im Internationalen Sozialistischen Büro mitgearbeitet und sich für die Publikation der
Erklärung Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts, Franz Mehrings und Clara Zetkins vom 10. September 1914 in der »Berner Tagwacht«
und im Züricher »Volksrecht« eingesetzt. Die »Berner Tagwacht« vom 30. September 1914 veröffentlichte auch Rosa Luxemburgs
Beitrag »Gegen den Franktireurkrieg« aus der »Sozialdemokratischen Korrespondenz«.
Rosa Luxemburg registrierte »eine wachsende Erbitterung allenthalben«. Die »offizielle Haltung der Reichstagsfraktion, des
Parteivorstandes und der Parteiredakteure« entspreche keineswegs dem Denken und Fühlen der gesamten Partei, »auf welcher Seite
die Mehrheit ist, kann jetzt natürlich nicht annähernd festgestellt werden, da gerade den Gegnern der parteioffiziellen Taktik
das Maul verbunden ist und da das politische Leben der Massen völlig erdrückt ist. […] manche, die für die Bewilligung der
Kredite waren, haben seitdem ob der eingetretenen Entwicklung einen heilsamen Schreck gekriegt und sind nun Gegner dieser
Politik oder werden es morgen sein. Zugleich rutscht ein anderer Teil Genossen mit jedem Tage mehr ins reinste Fahrwasser
der nationalpatriotischen Regierungspolitik.« Sie beobachtete »einen unaufhaltsamen Prozeß der Abschnürung von Elementen,
die eigentlich zum bürgerlichen Lager gehören und höchstens eine militärfromme proletarische Reformpartei mit starkem nationalistischen
Anstrich bilden, auf der anderen Seite von Elementen, die den Kern des revolutionären Klassenkampfes und des Internationalismus
nicht preisgeben wollen. Schon jetzt hat der stille innere Kampf begonnen, obwohl wir ihn wahrhaftig unter so ungünstigen
Bedingungen nicht aufnehmen wollen. Das gegenseitige Mißtrauen |475| und der gegenseitige Haß lassen sich aber kaum verdecken und züngeln schon in ganz feinen Flämmchen an die Oberfläche. Daß,
sobald der Krieg und der Belagerungszustand vorbei sind, die innere Auseinandersetzung mit gewaltiger Macht losbricht, verheimlicht
sich kein Mensch, ebensowenig wird jemand hoffen, die altgepriesene Einigkeit der Partei bei so tiefgehendem inneren Zwiespalt
aufrechterhalten zu können. Es ist nur der Belagerungszustand und der Krieg, die unsere angebliche Einigkeit künstlich zusammenhalten.
Es unterliegt keinem Zweifel: Der deutsche wie der internationale Sozialismus machen eine Krise durch wie noch nie in der
Geschichte und werden durch diesen Krieg vor die Schicksalsfrage gestellt. Gelingt es nicht, nach dem Kriege eine regelrechte
und diesmal auch für den Kriegsfall ernstgemeinte Absage des internationalen Sozialismus an den Imperialismus und Militarismus
unter allen ihren Vorwänden zu erreichen, dann kann sich der Sozialismus begraben lassen, oder er hat sich dann vielmehr schon
selbst begraben. Die Klärung nach dem Kriege wird über das Sein oder Nichtsein des Sozialismus entscheiden.« 102 Mit Bedacht müsse diese Klärung in jeder nationalen Partei herbeigeführt werden. Auch die gespaltene
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