Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
war schön und heiter, aber den Brahms konnte ich nur bis zur ersten Pause genießen: diese hohle Mache ohne jede innerliche
Frömmigkeit und mit abgeschmackten Einfällen – aber die Leute saßen entzückt. Hol sie der Teufel, dieses geborene Kanonenfutter!
Ich weiß wirklich nicht, ob ich nach dem Kriege in Deutschland bleibe, mir wird die Atmosphäre beinahe verhaßt. Wenn ich nur
weiß, wovon ich leben soll, dann gehe ich nach dem Süden; aber natürlich erst die Abrechnung.« 109
Für den 2. Dezember 1914 war im Reichstag die zweite Abstimmung über Kriegskredite anberaumt worden. Rosa Luxemburg versuchte
vor allem über Clara Zetkins und Karl Liebknechts Beziehungen zu verhindern, daß sich noch einmal alle sozialdemokratischen
Abgeordneten in Fraktionszwang nehmen ließen. Doch nur Karl Liebknecht blieb sitzen, als sich alle anderen erhoben. Mit seinem
»Nein« durchbrach er den »Burgfrieden« und stellte, wie es Rosa Luxemburg erhofft hatte, die Ehre der aufrechten Sozialisten
in Deutschland wieder her. In ihrem Artikel »Parteidisziplin« verteidigte Rosa Luxemburg Liebknecht gegen die am 3. Dezember
im »Vorwärts« veröffentlichten Anwürfe des Vorstandes der Fraktion, |478| er habe »Disziplinbruch« begangen. Die Parteidisziplin sei ein Mittel, betonte Rosa Luxemburg, um den Gesamtwillen der Klasse
in »geschichtsaktives Handeln« umzusetzen. Geprägt werde diese Disziplin durch das Programm und durch die Beschlüsse der Partei.
Unter dem Schutz des Belagerungszustandes habe die Reichstagsfraktion auf eigene Faust den Gesamtwillen der Partei und der
Klasse vergewaltigt und sich damit des »denkbar flagranten« Disziplinbruchs schuldig gemacht. Die große Masse der Parteigenossen
werde, wenn sie wieder ihren Willen zur Geltung bringen könne, Rechenschaft fordern. Liebknecht habe im Sinne des Parteiprogramms
gehandelt, die Fraktion habe es verraten. 110
Karl Liebknechts »Nein« wirkte über die Grenzen Deutschlands hinaus wie ein Signal, in Deutschland ermutigte es vor allem
junge Sozialdemokraten. Entsetzt notierte Eduard David im Dezember 1914 in sein Kriegstagebuch: »Montag, 14., Freitag, 18.,
Montag, 21. Dezember: Versammlung der Charlottenburger Funktionäre. Karl
Liebknecht
Referent, ich Korreferent über die Frage der Kreditbewilligung. In der Diskussion Rosa
Luxemburg,
Paul
Hirsch,
S.
Katzenstein
u. a. Der Eindruck ist niederschmetternd. Die ›Funktionäre‹ sind in Berlin fast durchweg junge Leute in den 20er Jahren, die
die Mühe der Flugblattverteilung noch nicht scheuen. Jugendliche Unerfahrenheit und doktrinäre, durch eine ganz einseitige
›Erziehung‹ seitens der radikalen Größen verbissene Geister. […] vor allem aber wollen sie den Frieden haben um jeden Preis.
[…] Rosa
Luxemburg
erntet mir ihrer Meisterleistung der feinen und groben Demagogie den stürmischsten Beifall.« 111
Nach einem Disput zwischen Rosa Luxemburg und Robert Schmidt am 15. Dezember in Berlin-Mariendorf nahmen die Versammelten
ebenfalls gegen die Fraktion Stellung.
Am 1. November hatte sie Hans Diefenbach geschrieben, ihre anfänglich verzweifelte Stimmung sei vorüber. Die Lage sei zwar
nicht rosiger und gebe zu Heiterkeit wenig Anlaß: »Daß die Partei und die Internationale kaputt sind, gründlich kaputt, unterliegt
keinem Zweifel, aber gerade die wachsenden Dimensionen dieses Unglücks machen es zu einem weltgeschichtlichen Drama, dem gegenüber
wieder die objektive historische Beurteilung Platz greift und das pesönliche Sichhaareausraufen |479| deplaciert wird.« 112 In den kommenden Wochen wuchs ihre Zuversicht. Wie sehr sie die Realität verkannte, offenbarte ein Schreiben an »Labour Leader«
vom Dezember 1914. Nachdem sie ihren Standpunkt zum Zusammenbruch und zur Erneuerung der Internationale dargelegt hatte, erklärte
sie: »Schon jetzt, nach wenigen Monaten des Krieges, verfliegt auch in Deutschland der chauvinistische Rausch bei den arbeitenden
Massen, die von ihren Führern in der großen geschichtlichen Stunde im Stiche gelassen worden sind, die Besinnung kehrt zurück,
und mit jedem Tag wächst die Zahl der Proletarier, denen das, was heute vorgeht, eine brennende Röte der Scham und des Zorns
ins Gesicht treibt. Aus diesem Kriege werden die Volksmassen nur noch mit stürmischerem Drang unter unsere alte Fahne der
sozialistischen Internationale zurückkehren, nicht um sie bei der nächsten imperialistischen Orgie wieder zu
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