Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
gebrauche meine ganze »freie Zeit«
Als Mathilde Jacob im April über Ostern nach Thüringen reiste, versorgte Marta Rosenbaum Rosa Luxemburg mit allem, was sie
benötigte und was sie erfreute. Rosa Luxemburg war dieser Frau sehr zugetan und unterhielt sich mit ihr wie mit einer seit
langem Vertrauten. Ihr ginge es gut, denn sie nutze ihre ganze »freie Zeit« von 5.40 Uhr morgens bis 9 Uhr abends »zum Lesen,
Denken und Schreiben« 30 . Sie könne jetzt wohl am ehesten nützlich sein, wenn sie eine größere Abhandlung über den Krieg und die Partei schreibe.
Schon seit Oktober 1914 dachte Rosa Luxemburg über ein solches Vorhaben nach. Mit Erschrecken hatte sie um die Weihnachtszeit
registriert, daß der Krieg alles beherrschte – selbst auf den Märkten und in den Kaufhäusern »nichts als Militärsachen, so
roh und gemein alles, daß einem schlecht wird« 31 . Im Kaufhaus Wertheim hatte die Verkäuferin in so barschem Ton auf die in einem verlassenen Winkel liegenden französischen
und englischen Bücher verwiesen, als wolle sie Rosa Luxemburg schon für die Frage nach der Literatur der »Erzfeinde« ohrfeigen.
Rosa Luxemburg spürte wieder kalten Haß »gegen das Menschenpack«, unter dem sie leben mußte, hatte sie Kostja Zetkin mitgeteilt.
»Ich fühle, jetzt muß über das, was vorgeht, ein Buch geschrieben werden, das weder Mann noch Weib gelesen, auch nicht die
ältesten Leute, ein Buch, das mit Keulenschlägen auf diese Herde einschlüge« 32 , die sich für diesen entsetzlichen Krieg begeistern ließ, an die Front zog und in der Heimat alles für den schnellen »Sieg«
mobilisierte.
Im April 1915 verfaßte sie in einem Zug eine über hundert Druckseiten starke Broschüre mit dem Titel »Die Krise der Sozialdemokratie
von Junius. Anhang: Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie«, die im Februar 1916 in der Verlagsdruckerei
Union in Zürich erschien und als Junius-Broschüre illegal verbreitet wurde. Mit dieser Schrift trat sie, die durch die Inhaftierung
isoliert und ausgeschaltet werden sollte, den Zerstörern menschlicher Zivilisation als unversöhnliche Anklägerin entgegen.
Es gebe nur eine »Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung,
Verödung, Degeneration, |495| ein großer Friedhof; oder Sieg des Sozialismus, d. h. der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den
Imperialismus und seine Methode: den Krieg«. 33 Bereits nach wenigen Monaten zeige sich der Krieg in seiner ganzen menschenverachtenden Grausamkeit. »Das im August, im September
verladene und patriotisch angehochte Kanonenfutter verwest in Belgien, in den Vogesen, in Masuren in Totenäckern, auf denen
der Profit mächtig in die Halme schießt. […] Das Geschäft gedeiht auf Trümmern. Städte werden zu Schutthaufen, Dörfer zu Friedhöfen,
Länder zu Wüsteneien, Bevölkerungen zu Bettlerhaufen, Kirchen zu Pferdeställen; Völkerrecht, Staatsverträge, Bündnisse, heiligste
Worte, höchste Autoritäten in Fetzen zerrissen; jeder Souverän von Gottes Gnaden den Vetter von der Gegenseite als Trottel
und wortbrüchigen Wicht, jeder Diplomat den Kollegen von der anderen Partei als abgefeimten Schurken, jede Regierung die andere
als das Verhängnis des eigenen Volkes der allgemeinen Verachtung preisgebend; und Hungertumulte in Venetien, in Lissabon,
in Moskau, in Singapur, und Pest in Rußland und Elend und Verzweiflung überall. Geschändet, entehrt, im Blute watend, von
Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie
und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur
und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.« 34
Die Junius-Broschüre gehört zu den ersten Arbeiten, die die Ursachen des Weltkrieges analysierten. Rosa Luxemburg geißelte
den verbrecherischen Anteil des deutschen Imperialismus an Ausbruch und Verlauf des Krieges und erhellte zugleich die Krise
der deutschen Sozialdemokratie sowie den Zusammenbruch der II. Internationale. Wie in ihren ersten Stellungnahmen 1914 kritisierte
sie die Kriegskreditbewilliger und deren Wortführer Ebert, David, Heine, Noske und Scheidemann. Einige frühere Mitstreiter
wie Haenisch und Lensch entpuppten sich in Kriegspamphleten als
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