Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
organisatorischen Problemen herauszubilden, diese Frage war ja de facto bereits in der II. Internationale negativ entschieden
worden. Von einer realistischen und konstruktiven Antwort – bei unbedingter Respektierung nationaler Unterschiede und Forderungen
– sollte das künftige internationale Zusammenwirken von Sozialisten abhängen.
Rosa Luxemburgs These, daß es in der Ära des entfesselten Imperialismus keine nationalen Kriege mehr geben werde und die nationalen
Interessen nur als »Düpierungsmittel« dienten, »um die arbeitenden Volksmassen ihrem Todfeind, dem Imperialismus, |500| dienstbar zu machen« 42 , war gegen den Nationalismus innerhalb der sozialdemokratischen Parteien der kriegführenden imperialistischen Großstaaten
gerichtet. Lenin kritisierte diese Behauptung zu Recht, denn sie stand zu Fakten des ersten Weltkrieges, z. B. zur Rolle Serbiens,
wie zu den nach wie vor großen nationalen Unterschieden und Konfliktstoffen, die es trotz der fortschreitenden Ausweitung
des Kapitalismus in der Welt gab, in Widerspruch. 43
Zum kritischen Selbstbesinnungsprozeß in der Sozialdemokratie gehörte für Rosa Luxemburg auch die Überwindung des »Offiziösentums
der Theorie«. Der Marxismus sollte nicht wie bisher für den jeweiligen Hausbedarf der Parteiinstanzen zur Rechtfertigung ihrer
Tagesgeschäfte zurechtgestutzt und mißbraucht werden. 44 Es dürfe kein genereller Widerspruch zwischen Theorie und Praxis zugelassen werden. Nicht an Forderungen nach Demokratie,
Frieden und Sozialismus habe es gefehlt, sondern an der Fähigkeit, am Willen und an Taten, die Grundsätze der Politik und
die entsprechenden Beschlüsse von Parteitagen und internationalen Kongressen in praktisches Handeln umzusetzen. Dogmatismus,
Formalismus, Bürokratismus und das Lavieren des »marxistischen Zentrums« im sozialdemokratischen Vereinsleben hätten viele
Widersprüche in der Parteistruktur und –arbeit hervorgebracht, Opportunitätsstreben in der Politik und Nurparlamentarismus
in der Taktik den kämpferischen Geist und die revolutionäre Handlungsfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie weitgehend vernichtet.
Rosa Luxemburg hatte das »marxistische Zentrum« als zentristischen Sumpf schon seit einigen Jahren wegen der latenten Widersprüche
zwischen Wort und Tat kritisiert und reagierte auch weiterhin empört auf Halbheiten der sich um Hugo Haase, Georg Ledebour,
Adolph Hoffmann und Wilhelm Dittmann formierenden Opposition und speziell auf alle Äußerungen Karl Kautskys. Im Frühjahr 1916
schrieb sie: »Mit halben Mitteln, mit Hin- und Herschwanken, mit zaghafter Schaukelpolitik kann uns nimmermehr geholfen werden.
Jetzt muß sich jeder sagen: entweder – oder. Entweder sind wir nationalliberale Schafe im sozialistischen Löwenfell, dann
lassen wir auch jedes Spiel mit der Opposition. Oder aber wir sind Kämpfer der proletarischen Internationale in voller Bedeutung
dieses |501| Wortes, dann muß eben mit der Opposition ganze Arbeit gemacht, dann muß die Fahne des Klassenkampfes und des Internationalismus
rücksichtslos und offen entfaltet werden.« 45
Allerdings hatte Rosa Luxemburg selbst keine detaillierten Vorstellungen darüber, wie die Partei in Hinblick auf einen konsequenten
Antikriegskampf reaktiviert werden könnte. Immer wieder betonte sie, es käme auf den Willen der Massen zur Tat an, der durch
Organisation und Disziplin auszubilden sei, und die Selbstkritik der Bewegung müsse sich auch auf den Organisationsfetischismus
richten. Ihr Parteiverständnis pendelte zwischen einer nach Programm und beschlossener Taktik einheitlich agierenden Massenpartei
und einer im Kampf sich selbst disziplinierenden Massenbewegung.
In der Junius-Broschüre stellte sich Rosa Luxemburg die Frage nach der vagen Rolle der Massen in historisch bewegten und schwer
einzuschätzenden Situationen. Schließlich zogen ja auch viele Sozialdemokraten mit in den Krieg – fürs Vaterland, wie sie
meinten, obwohl sie vordem den Antikriegslosungen der Arbeiterbewegung gefolgt waren. Sie beobachtete die demoralisierende
Wirkung des »burgfriedlichen« Verhaltens der sozialdemokratischen Parteiführung, der Reichstagsfraktion und der Presse und
des von vielen Seiten hochgepeitschten Nationalismus. Sie wußte, ohne spürbare Oppositionspolitik der Sozialdemokratie konnten
Selbstwertgefühl, Protest- und Widerstandswille der Massen nicht rasch genug gefördert werden.
Daß die
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