Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
der Parteimitglieder
die Kriegspolitik nicht mehr unterstütze. Sie hoffte, der chauvinistische Massenrausch werde verfliegen und eine Neubesinnung
auf die traditionellen Werte Internationalität und Solidarität sei möglich. Spätestens nach dem Krieg werde die große Masse
der Parteigenossen Rechenschaft fordern, aber mit den leitenden Instanzen der Sozialdemokratie |498| und der Gewerkschaften müsse man sich bereits jetzt über Fragen der Einheit oder Spaltung auseinandersetzen.
Wie schon in ihrem Aufsatz »Der Wiederaufbau der Internationale« äußerte sich Rosa Luxemburg dezidiert zu den Ursachen für
das Versagen der Partei. Zunächst konstatierte sie, daß sich in deren Reihen trotz der fortwährenden Bekenntnisse zum Internationalismus
der Nationalismus in vielfältigen Varianten ausgebreitet hatte. Die Sozialdemokratie habe die Lüge vom nationalen Verteidigungskrieg
Deutschlands, die Parole von der »Vaterlandsverteidigung« übernommen, weil das Verhältnis zur nationalen Frage, zur nationalen
Identität der Völker unter den Bedingungen imperialistischer Entwicklungstendenzen und Kriegführungsstrategien nicht geklärt
und Lösungsangebote in Resolutionsentwürfen, Schriften und Artikeln nicht ausdiskutiert worden seien.
Das »Ja« zur »Vaterlandsverteidigung« im Falle eines Angriffs auf Deutschland in einer Zeit, da das Reich für einen imperialistischen
Eroberungskrieg rüstete und seine Geheimdiplomatie auf die Entfesselung des Krieges hinwirkte, sei eine Hauptursache für die
jähe Wende von der prinzipiellen Opposition zur prinzipienlosen Durchhaltepolitik, die in der offiziellen sozialdemokratischen
Politik vollzogen wurde. Zudem wurde die »Vaterlandsverteidigung« frivol mit einer europäischen Befreiungslegende drapiert:
Die Niederlage Rußlands, die es gegen die russische Despotie zu erstreiten gelte, so wurde auch in sozialdemokratischen Kreisen
erklärt, sei zugleich der Sieg der Freiheit in Europa. Eine brutalere Verhöhnung der russischen Revolution und des Vermächtnisses
von Marx ließe sich kaum denken. 38 Die Gefahren für die »freiheitliche Entwicklung Deutschlands« lägen nicht, wie die Reichstagsfraktion meinte, in Rußland,
sondern in Deutschland selbst: im konterrevolutionären Ursprung der deutschen Verfassung, im ostelbischen Junkertum, im großindustriellen
Scharfmachertum, im stockreaktionären Zentrum, in der Verlumpung des deutschen Liberalismus und im persönlichen Regiment des
Kaisers. 39
Rosa Luxemburg orientierte in ihrem beharrlichen Kampf gegen den Nationalismus auf einen internationalistischen Ausweg. Sie
forderte eine weitgehende Unterordnung der nationalen |499| Sektionen unter die Beschlüsse der Internationale über eine einheitlich einzuhaltende Taktik. Die nach Abschluß dieser wissenschaftlichen
Arbeit entworfenen »Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie« enthielten den Extrakt der Untersuchung
und ein Angebot von Grundsätzen zur Wiederbelebung der sozialistischen Bewegung. Hauptaufgabe sei es, hieß es in These 10,
»das Proletariat aller Länder zu einer lebendigen revolutionären Macht zusammenzufassen, es durch eine starke internationale
Organisation mit einheitlicher Auffassung seiner Interessen und Aufgaben, mit einheitlicher Taktik und politischer Aktionsfähigkeit
im Frieden wie im Kriege zu dem entscheidenden Faktor des politischen Lebens zu machen, zu dessen Rolle es berufen ist«. 40 Internationaler Zusammenhalt in Wort und Tat und mit der Konsequenz, daß die Pflicht zur Disziplin gegenüber den Beschlüssen
der Internationale Vorrang vor allen anderen Organisationspflichten habe, 41 war eine der markantesten Folgerungen Rosa Luxemburgs. Sie löste einen langwierigen Streit aus, weil die meisten Sozialdemokraten
nur für eine föderative, lose Zusammenfassung nationaler Parteien eintraten und die von Rosa Luxemburg geforderte organisationspolitische
Unterordnung infolge des in der deutschen Sozialdemokratie vorherrschenden Organisationsfetischismus überbewerteten. Für Rosa
Luxemburg war die Wiederbelebung der Internationale aber keineswegs in erster Linie eine Organisationsfrage.
Ob es bei der ungleichen ökonomischen und politischen Entwicklung der einzelnen Länder und damit auch unterschiedlichen Ausgangsbasis
für die Tätigkeit der einzelnen Parteien überhaupt möglich sei, eine durchsetzbare einheitliche Auffassung zu taktischen und
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