Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Kommissionen, umgeben ständig von Paketen, Zeitungen, alle Taschen voll Notizblocks und Papierchen, springend vom Auto auf
die Elektrische und von der Elektrischen auf die Stadtbahn, Körper und Seele bedeckt von Straßenstaub … Das war so seine Art,
obwohl er wie wenige innerlich tief poetisch veranlagt ist und sich über jedes Blümchen wie ein Kind freuen kann. Ich hatte
ihn gezwungen, mit mir ein wenig den Frühling zu genießen, ein paarmal spazierenzugehen. Wie lebte er dabei auf!« 87 Zu Pfingsten machte Rosa Luxemburg mit Sophie Liebknecht und Mathilde Jacob einen Ausflug nach Lichtenrade, der ihr bestens
in Erinnerung blieb.
Kam direkt aus dem Loch in den Trubel
Viel Ruhe zur Besinnung blieb Rosa Luxemburg nicht. Nachdem sie sich für die aufregenden Begrüßungen bedankt hatte, versuchte
sie sogleich, ihre im Gefängnis fertiggestellte »Antikritik« bei einem Verlag unterzubringen. Sie übergab die Schrift, in
der sie sich mit den Rezensenten ihres Buches »Die Akkumulation des Kapitals« von 1913 auseinandersetzte, Bernhard |518| Bruns von der Vorwärts Buchdruckerei und Verlagsanstalt Paul Singer & Co. in Berlin. »Die Sache ist gesalzen und
gepfeffert und rechnet mit der ganzen Kautskyschen Clique gründlich ab. Aber leider – wer wird das lesen außer Franz [Mehring],
Dir und dem Dichter [Friedrich Zundel]?!« 88 , schrieb sie an Clara Zetkin. Es ging ihr in dieser Auseinandersetzung vor allem um dreierlei: erstens um die Verteidigung
ihrer Imperialismusauffassung; zweitens um die Behauptung des Marxismus im kritischen Widerstreit über den Kapitalismus in
seiner neuen Entwicklungsperiode und drittens um die Enthüllung von Versuchen, mit marxistischer Terminologie Marx’ Erkenntnis
über das Wesen und die Widersprüche des Kapitalismus sowie die wissenschaftliche Begründung der sozialistischen Perspektive
beiseite zu schieben und der Arbeiterbewegung Theorien der bürgerlichen Nationalökonomie marxistisch drapiert anzubieten.
Heinrich Dietz offerierte sie ihre Arbeit als eine populäre Darstellung des Problems ohne alle mathematischen Formeln. Ihres
Wissens stelle sie »die erste gemeinfaßliche Erläuterung zum II. Band des Marxschen ›Kapitals‹ im Zusammenhang mit dem Problem
des Imperialismus dar« 89 . Die Erstausgabe erschien 1921, zwei Jahre nach Rosa Luxemburgs Ermordung.
Rosa Luxemburg ließ sich von ihren Freunden über die Stimmung der Leute berichten. Viel Neues über das Für und Wider in der
Berliner Opposition erfuhr sie auf der Feier zum 70. Geburtstag von Franz Mehring, die ernster verlief als das Fest zu August
Bebels 70. im Jahre 1910.
In der Partei sei im Vergleich zum Beginn des Jahres 1915 »in der Klärung, Erstarkung und Differenzierung der Geister« ein
»gewaltiger Schritt vorwärts« gemacht worden. 90 Die Führung der Gruppe Internationale, die seit dem 27. Januar 1916 unter der anonymen Bezeichnung »Spartacus« regelmäßg
»Politische Briefe« herausgab, lag im 1. Halbjahr 1916 in den Händen von Karl Liebknecht, Franz Mehring, Ernst Meyer, Leo
Jogiches, Wilhelm Pieck, Käte Duncker und Hugo Eberlein. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis schloß sich ihnen selbstverständlich
auch Rosa Luxemburg wieder an. Bald schon wurde die Gruppe nur noch Spartakusgruppe genannt, nach den Spartakusbriefen, für
deren Herstellung und |519| Vertrieb sich Leo Jogiches besonders engagierte. Die Spartakusgruppe unterhielt Verbindungen nach Arnstadt, Braunschweig,
Bremen, Breslau, Chemnitz, Dresden, Duisburg, Düsseldorf, Essen, Frankfurt (Main), Freiberg (Sachsen), Gera, Göppingen, Halle
(Saale), Hamburg, Hanau, Hannover, Jena, Leipzig, Magdeburg, Mainz, München, Nordhausen, Pirna, Stuttgart und Würzburg. Die
Zahl der verbreiteten illegalen Flugblätter und Flugschriften hatte im Dezember 1915 eine Million erreicht. In Behördenberichten
hieß es im Februar 1916, keine Woche verginge, ohne daß zwei oder drei Flugblätter in allen großen Städten Nord- und Mitteldeutschlands
auftauchten.
Rosa Luxemburg pflichtete Karl Liebknecht bei, daß die Losung für die Sammlung einer revolutionären Antikriegsbewegung »Nicht
›Einheit‹, sondern Klarheit über alles« lauten mußte. Liebknecht hatte in den Spartakusbriefen am 3. Februar 1916 geschrieben:
»Gemeinsame Arbeit, soweit Übereinstimmung herrscht – ja. Sammlung ohne Klärung, ohne Übereinstimmung? – Nein!« 91 Unter dieser Devise diskutierte Karl
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