Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Eine Antikritik«. In ihr resümierte sie, daß sich
die »Unfehlbarkeit des offiziellen Marxismus, der zu jeder Praxis der Bewegung den Segen gab, bloß als eine pomphafte Kulisse
herausgestellt [habe], die hinter unduldsamer und anmaßender Dogmenstrenge innere Unsicherheit und Aktionsunfähigkeit barg.
Der öden Routine, die sich nur in den ausgefahrenen Geleisen der ›alten bewährten Taktik‹, d. h. des Nichts-als-Parlamentarismus,
zu bewegen wußte, entsprach das theoretische Epigonentum, das sich an die Formeln des Meisters klammert, indes es den lebendigen
Geist seiner Lehre verleugnet.« 73 Sie charakterisierte und kritisierte in dieser Schrift Vorgänge und Tendenzen in einer Millionenpartei der sozialistischen
Arbeiterbewegung, die Anspruch auf Tradition und Opposition erhob. Ihre Gedanken sind von allgemeiner Bedeutung, denn in den
folgenden Jahrzehnten wiederholten sich, wenn auch unter anderen Bedingungen und in unterschiedlichem Ausmaß, solche und ähnliche
Krisen bzw. Niederlagen von Parteien, deren Programm und Praxis auseinanderklafften. Theoretischer Scharfsinn und hohe Verallgemeinerungsfähigkeit
verliehen mancher zeitgenössischen Kritik Rosa Luxemburgs Momente von Prophetie.
|512| Über ihre »Leitsätze« konnte sich Rosa Luxemburg dank konspirativer Hilfe ihrer Genossinnen und Genossen vor allem mit Karl
Liebknecht und Julian Marchlewski verständigen. Karl Liebknecht, der wiederholt mit der Opposition um Ledebour und Haase verhandelte
und deren Unentschlossenheit zu Aktionen unmittelbar erlebte und zu überwinden versuchte, wies sie in einem Brief darauf hin,
daß die unterschiedlichen Positionen der einzelnen Vertreter der Opposition zum Krieg viel deutlicher herausgearbeitet werden
müßten. 74 Seine Übereinstimmung mit »den Hauptgedanken der Kritik« an der Haltung der Sozialdemokratischen Partei zum Krieg und mit
»den Richtpunkten zur Orientierung der sozialistischen Politik« hob Liebknecht ausdrücklich hervor. 75 Beide arbeiteten während des Krieges trotz aller Hindernisse immer enger zusammen. »Daß wir in allem zusammenstehen werden,
halte ich für selbstverständlich und für unbedingt notwendig«, schrieb ihm Rosa Luxemburg Anfang Dezember 1915. »Gibt es manchmal
kleine Divergenzen, so nur in dem Sinne, wie jeder Politiker in komplizierten Lagen mit sich selbst in Widerstreit geraten
kann. Daß die Thesen als unsere gemeinsame Plattform ausgehen, war mein dringender Wunsch von Anfang an. Lassen Sie mich nur
gleich wissen, ob wir jetzt ins reine gekommen sind. Und lassen Sie (außer unseren nächsten Freunden) ja keine Georgs[Ledebour]
und keine Ströbels darin auch nur ein Wort ändern!« 76
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wollten nach wie vor mit der Opposition um Ledebour und Haase zusammenwirken, bestanden
aber auf klarer Positionierung. Für die bevorstehende Konferenz der Opposition in Berlin riet Rosa Luxemburg Leo Jogiches,
»nicht etwa die ganze Opposition unter einen Hut zu bringen, sondern umgekehrt aus diesem Brei den kleinen, festen und aktionsfähigen
Kern herauszuschälen, den wir um unsere Plattform gruppieren können. Mit organisatorischer Zusammenfassung hingegen ist große
Vorsicht geboten. Denn alle Zusammenschlüsse der ›Linken‹ führen nach meiner bittern langjährigen Parteierfahrung nur dazu,
den paar aktionsfähigen Leuten die Hände zu binden…« 77
Zum Auftakt des Jahres 1916 fanden sich im Rechtsanwaltsbüro |513| der Gebrüder Liebknecht in der Chausseestr. 121 in Berlin Käte Duncker, Hugo Eberlein, Johann Knief, Karl Liebknecht, Rudolf
Lindau, Franz Mehring, Ernst Meyer, Carl Minster, Wilhelm Pieck, Fritz Rück, Otto Rühle, Georg Schumann, August und Berta
Thalheimer und weitere Linke ein und berieten über die »Leitsätze«. Diese wurden im Prinzip gebilligt, obgleich u. a. die
Delegierten aus Bremen, Hamburg und Chemnitz kritisierten, daß darin der Vorsatz fehlte, mit den Rechten wie mit der zentristischen
Richtung in der Sozialdemokratie entschieden zu brechen. Auch seien die »Leitsätze« kein praktisches Aktionsprogramm für den
Tageskampf. »Wir einigten uns auf Tante Rosas Testament«, berichtete Käte Duncker am 3. Januar 1916 an Hermann Duncker, »und
machten dadurch einen Trennungsstrich zwischen uns und der Familie von Onkel Georg [Ledebour], der dieses Testament natürlich
anfechten wird.« 78
Käte Duncker, Karl Liebknecht, Julian Marchlewski, Franz
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