Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Auto mit Karl und der J[a]c[o]b. Diese beiden und Adolph [Hoffmann] verschwanden im Portal,
das Auto fuhr fort. Das schien uns ein Zeichen, daß man sie an einem anderen Portal herauslassen würde. Wir setzten uns dahin
in Bewegung und kamen auch richtig gerade in dem Augenblick, als das Auto zum Tor herauskam. Hochrufe auf Rosa und den Frieden!
Einige schwangen sich auf die Trittbretter, warfen ihr Blumen hinein und fuhren ein Stück mit. Die Gerüchte in der Umgebung
waren sehr widersprechend. Die einen sprachen von einem neueröffneten Butterverkauf, andere wollten wissen, die Großherzogin
von Luxemburg sei vorbeigekommen. Ich fuhr mit der Bahn nach Südende hinaus und traf dort zunächst nur Karl und Adolph. Dann
erschien noch die Rosenbaum und unsere Hedwig, die besonders befohlen worden war. Und auf einmal öffnete sich die Tür und
herein kamen unter der Wurmschen Führung ca. 60–75 Frauen; es war beängstigend; die vielen Blumen und sonstigen Geschenke
kamen in die größte Gefahr, umgeworfen zu werden. In der Not hielt ich eine ganz kurze Ansprache und machte |516| mich mit den Frauen auf den Weg. Die Rosa sieht gut aus und ist sehr vergnügt. Wie muß es einem wohl sein nach 12 Monaten
Gefängnis?« 83
Rosa Luxemburg war überwältigt. Tagelang stand sie unter dem Eindruck dieses herzlichen Empfangs. Sie schrieb an Clara Zetkin:
»Über tausend an der Zahl holten sie mich ab, und dann kamen sie massenhaft zu mir in die Wohnung, um mir die Hand zu drücken.
Meine Wohnung war und ist noch vollgestopft mit ihren Geschenken, Blumenkästen, Kuchen, Stollen, Konservenbüchsen, Teesäckchen,
Seife, Kakao, Sardinen, feinste Gemüse – wie in einem Delikatessenladen, alles von diesen armen und herzlichen Frauen selbst
gebacken, selbst eingemacht, selbst gebracht. Du wirst wissen, was ich empfinde, wenn ich das sehe. Ich möchte heulen vor
Beschämung und tröste mich nur mit dem Gedanken, daß ich hier doch nur die Holzstange bin, an die sie die Fahne ihrer allgemeinen
Kampfbegeisterung gehängt haben. In Mariendorf folgte dann der Empfang im Leseabend, wieder ein Riesenstrauß auf dem Tisch,
und diese Gesichter, diese ernsten und leuchtenden Augen! Du hättest herzliche Freude an diesen Frauen. Begrüßt wurde ich
vom Vorsitzenden mit der Erklärung, die Demonstration am 18. sei ganz spontan aus eigenem Antrieb von den Frauen Berlins gemacht
worden, um diejenige zu begrüßen, die ›uns gefehlt hat, weil sie gerade den Parteiführern ein scharfes Wort sagt, weil sie
die ist, die man oben in der Partei lieber ins Gefängnis ein- als aus ihm ausgehen sieht‹.« 84
Einzige Äußerung des Parteivorstands zu Rosa Luxemburgs Entlassung war ein Begrüßungstelegramm, das Luise Zietz im Namen aller
Frauen Deutschlands schickte. Rosa Luxemburgs Freude darüber hielt sich in Grenzen, da es ihr zu überschwenglich formuliert
war und die Absenderin nicht zu ihren Freundinnen zählte.
Sie wäre sehr gern zu Clara Zetkin nach Sillenbuch gefahren, um sich mit ihr über das letzte Jahr auszutauschen und der Freundin
endlich wieder einmal nahe zu sein. Clara Zetkin hätte ihren persönlichen Beistand gebraucht, denn sie wurde von starken Herzbeschwerden
gequält. Die Sorgen über das Kriegsgeschehen strapazierten ihre Nerven und ihr Gemüt, zumal ihre beiden Söhne und ihr Mann
Friedrich Zundel eingezogen |517| waren. Rosa Luxemburg mußte die Freundin vertrösten, denn sie begann sofort unter Aufsicht eine Kur, weil sie »einen völlig
ruinierten Magen und große Herzerschlaffung« mitbrachte. 85 Außerdem wollte sie ihr eigenes Heim mit ihrer Mimi erst einmal ein paar Tage genießen. Trotz Magen und Herz sei sie frisch,
mobil und arbeitslustig. An erzwungener Ruhe habe sie genug gelitten. Ihre Nerven brauchten jetzt vor allem Regsamkeit.
Ostern 1916 hörte sie sich mit Karl und Sophie Liebknecht in der Garnisonkirche die Matthäuspassion an. Noch nie habe sie
einen Frühling so bewußt erlebt und in vollen Zügen genossen wie 1916 nach dem einen Jahr Haft, schrieb sie später. 86 Sie überzeugte Karl Liebknecht, sich ein wenig Muße zu gönnen und sich zu erinnern, daß es außer Reichstag und Landtag noch
eine Welt gibt. Er schlenderte mit ihr und Sophie einige Male wohlgelaunt durch die Südender Felder und den Botanischen Garten.
»Der arme Kerl lebte ja seit jeher ventre à terre, im Galopp, in ewiger Hast, eilend zu Rendezvous mit aller Welt, zu Sitzungen,
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