Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
über den Dichter gesiegt, denn die »Geschichte meines Zeitgenossen«,
die 1906 bis 1910 in der von ihm herausgegebenen Revue »Der russische Reichtum« erschien, sei nur noch halb Dichtung, aber
ganz Wahrheit. Im Vergleich dazu symbolisiere Gorki, einer der schrillstimmigen Sturmvögel der Revolution, wie sich das russische
Proletariat durch die harte Schule des Kampfes in erstaunlich kurzer Zeit zu geschichtlicher Aktionsfähigkeit emporgearbeitet
habe. »Sicher ein unbegreifliches Phänomen dies für alle Kulturphilister, die gute Straßenbeleuchtung, pünktlichen Eisenbahnverkehr
und saubere Stehkragen für Kultur sowie fleißiges Klappern der parlamentarischen Mühlen für politische Freiheit halten.« 128 Diese Akzente setzte Rosa Luxemburg vermutlich erst unter dem Eindruck der russischen Revolution.
Im Herbst 1916 wurde Rosa Luxemburg völlig überraschend in ein anderes Gefängnis verlegt. Mathilde Jacob war schockiert. »Als
ich an einem der letzten Oktobertage Wäsche und Bücher ins Polizeigefängnis brachte«, erinnerte sie sich, »wurde ich zum Direktor
geführt. Recht erschrocken teilte er mir mit, Rosa Luxemburg sei am frühen Morgen nach Wronke gebracht worden. Er könne allerdings
nicht genau sagen, ob der Name des Ortes stimme. Ich vergewisserte mich, daß es eine kleine Stadt dieses Namens in der Provinz
Posen gab. Jetzt eilte ich zur Kommandantur, zum Oberkommando, aber nirgends wollte man Bescheid wissen: Ich sollte mich gedulden,
Frau Dr. Luxemburg würde schreiben und ihre Wünsche äußern.« 129
Ich bin in der Festung Wronke untergebracht
Seit dem 26. Oktober 1916 saß Rosa Luxemburg in Wronke ein. Der Ort, zu deutsch »Krähenwinkel«, lag etwa eine Stunde Bahnfahrt
von Posen entfernt in dem von Preußen annektierten |540| und dem Deutschen Reich eingegliederten polnischen Gebiet. Die meisten Beamten, Lehrer und Geschäftsleute waren Deutsche,
die Bevölkerungsmehrheit waren Polen, die die deutsche Schule besuchen und sich im offiziellen Verkehr der deutschen Sprache
bedienen mußten. Rosa Luxemburg kannte dieses landschaftlich schöne Gebiet von früheren Agitationstouren. Wronke galt als
Festung, die Anlage trug aber eher städtischen Charakter. Gefängnisdirektor war während des ersten Weltkrieges der 1883 in
Magdeburg geborene Dr. Ernst Dossmann. Er arbeitete seit 1913 in Wronke als Staatsanwalt. »Als Rosa Luxemburg im Gefängnis
eingeliefert wurde«, schrieb er später, »war sie mir selbstverständlich ein Begriff. Ich wußte, wen ich vor mir hatte.« 130 Er habe allerdings einen ganz anderen Eindruck von ihr gehabt als erwartet. Sie wurde unter strengster Geheimhaltung von
Berlin überführt. Für den Transport mit zwei amtlichen Begleitpersonen mußte sie 40 Mark bezahlen. Obwohl die Gefängniswärter
nicht über ihre Anwesenheit unterrichtet wurden, sprach sich der Neueingang schnell herum. Dossmann sorgte für eine der »Sicherheitshaft«
angemessene Unterkunft und durchbrach im Umgang mit Rosa Luxemburg manche Vorschrift, z. B. ließ er die für Besucher vorgesehene
Gesprächsdauer von 15 Minuten meist ausweiten, manchmal auf mehrere Stunden.
Rosa Luxemburg unterstand weiterhin der Kommandantur des Oberkommandos in den Marken, über die ihre gesamte Post geleitet
werden mußte, auch jede Buchsendung. Zunächst sollte sie nur eine Zeitung abonnieren, doch sie protestierte und bestellte
wenige Tage später mehrere Blätter, auch die »Neue Zeit«, die »Sozialistischen Monatshefte«, die »Gleichheit« und das Bremer
Wochenblatt, die von Johann Knief herausgegebene »Arbeiterpolitik. Wochenschrift für wissenschaftlichen Sozialismus«.
Rosa Luxemburg erhielt etwa alle drei bis vier Wochen Besuch, der jeweils vom Oberkommando genehmigt werden mußte. Der Gefängnisdirektor
gab zu Protokoll, daß er die Besucher vorwiegend persönlich und großzügig behandelt habe und vor Denunziationen zu bewahren
suchte. Im Gefängnis hatte Rosa Luxemburg nur noch zu einer »Kalfaktrice« Kontakt, die ihre Räume in Ordnung brachte und mit |541| der sie sprechen durfte. Sie wurde in einem separaten Häuschen untergebracht, das für eine politische weibliche Gefangene
vorgesehen war und auch schon als Lazaretteinrichtung gedient hatte. »Es bestand nur aus einem Parterregeschoß: einem Schlafzimmerchen
und einem etwas größeren Wohnraum; beide waren durch eine Tür verbunden. Ein Korridor führte zum Gärtchen. Die Räume waren
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