Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Luxemburg vermutlich keine Briefe. 1917 schilderte sie Hans Diefenbach eine Episode aus diesen traumatischen
Wochen: »Der anderthalbmonatige Aufenthalt dort hat auf meinem Kopf graue Haare und in meinen Nerven Risse zurückgelassen,
die ich nie verwinden werde. Und doch habe ich von dort eine kleine Erinnerung, die wie eine Blume in meinem Gedächtnis aufblickt.
Dort begann die Nacht – es war Spätherbst, Oktober, und gar keine Beleuchtung in der Zelle – schon um 5, 6 Uhr. Es blieb mir
in der 11 cbm großen Zelle nichts übrig, als mich auf der Pritsche hinzustrecken, eingeklemmt zwischen unbeschreiblichen Möbelstücken,
und in die Höllenmusik der fortwährend vorbeidonnernden Stadtbahnzüge, von denen die Zelle erbebte und auf den klirrenden
Fensterscheiben rote Lichtreflexe aufblitzten, meinen Mörike halblaut zu deklamieren. Von 10 Uhr ab pflegte sich das diabolische
Konzert der Stadtbahn etwas zu besänftigen, und bald darauf wurde von der Straße her die folgende kleine Episode hörbar. Erst
eine dumpfe männliche Stimme, die etwas Rufendes und Ermahnendes hatte, dann als Antwort der Gesang eines etwa achtjährigen
Mädchens, das offenbar im Springen und Hüpfen ein Kinderliedchen vortrug und zugleich ein silbernes, glockenreines Lachen
erschallen ließ. […] In diesem hüpfenden Rhythmus des Kinderlieds, in dem perlenden Lachen lag so viel sorglose, siegreiche
Lebenslust, daß der ganze finstere schimmlige Bau des Polizeipräsidiums wie von einem silbernen Nebelmantel eingehüllt wurde
und in meiner übelriechenden Zelle es so plötzlich in der Luft wie von fallenden dunkelroten Rosen duftete… So liest man sich
überall von der Straße ein bißchen Glück auf und wird immer wieder daran gemahnt, daß das Leben schön und reich ist.« 118
|534| Mathilde Jacob durfte Rosa Luxemburg wöchentlich einmal für eine Stunde besuchen. Wie schon während der vergangenen Haftzeit
war sie für Rosa Luxemburg in jeder Hinsicht die wichtigste Stütze. Sie nahm Verbindung zu Rechtsanwälten auf und konnte ihr
berichten, daß u. a. Oskar Cohn, Hugo Haase und Theodor Liebknecht Hilfe angeboten hatten. Für die Wochen, die Rosa Luxemburg
im Frauengefängnis in der Barnimstraße verbrachte, ist verbrieft, daß sie über Mathilde Jacob Kontakt zu Leo Jogiches besaß.
Er war von den Führungskräften der Spartakusgruppe nach der letzten Welle von Verhaftungen und Einberufungen der einzige,
der sich mit viel Erfahrung um alle wichtigen Belange kümmern und die jüngeren Spartakusanhänger anleiten konnte. Nur Mathilde
Jacob wußte, daß er seit 3. September 1915 nicht mehr in Steglitz wohnte, sondern in Neukölln, in der Schwarzastr. 9 bei der
jungen Witwe Doris Paulsen. Sophie Liebknecht lernte ihn in dieser Zeit als bedingungslos anerkannten Chef der Gruppe um Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht schätzen, der sich so geschickt zu tarnen verstand, daß er eigentlich die unsichtbare Seele
der Spartakusgruppe war. »Glänzend maskiert«, schwärmte sie, »bartlos, gut gekleidet, alle paar Tage unter einem anderen Namen
anrufend (worauf man vorbereitet war), fragte er nach den häuslichen Angelegenheiten – und da es damals ganz ungefährlich
schien, kam er abends zu uns und wurde den Kindern und mir ein guter, feinfühlender Freund, dem ich alle meine Sorgen und
Ängste nicht vorzuenthalten brauchte.« 119
»Schutz«häftlinge durften Nahrungsmittel, Bücher, Blumen und persönliche Gegenstände zur wohnlichen Ausgestaltung ihrer Zelle
entgegennehmen. Im Polizeigefängnis am Alexanderplatz waren die Bedingungen dafür allerdings nicht gegeben. Die Mutter von
Mathilde Jacob kochte für Rosa Luxemburg nach ärztlicher Vorschrift das tägliche Mittagessen und sorgte auch für die übrigen
Mahlzeiten. Mancher Zettel oder Brief wurde mit dem Essen in die Zelle bzw. mit dem Kochgeschirr nach draußen geschmuggelt.
Franz Mehring sandte ihr z. B. am 28. Juli einen lustigen Sechszeiler, und Rosa Luxemburg tauschte auf diesem Wege besonders
mit Lene (Leo Jogiches) und Lek (Karl Liebknecht) Grüße und Gedanken aus, |535| denn sie durfte im Monat nur zwei Briefe schreiben. Sie klagte des öfteren über erhebliche Verzögerungen bei der Übermittlung
ihrer Post, die stets aufwendig kontrolliert wurde. Aber letztlich erhielt sie alle Sendungen.
Während des Aufenthaltes in der Barnimstraße schrieb Rosa Luxemburg den Beitrag »Die Menge tut es« für die »Freie
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