Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Einsicht
erziehen. Ja, ich wiederhole, was und wem nützt es, wenn unsere besten, kühnsten, wissenreichsten Leute lahmgelegt sind und
an Stelle einer zielklaren Leitung ein schwächliches, unsicheres Hin- und Herschwanken tritt?« 142
Rosa Luxemburg antwortete Mathilde Wurm sehr ausführlich auf ihr tapferes und kritisches Parieren, belächelte allerdings deren
Entschluß, sie zu »bekämpfen«. »Mädchen, ich sitze fest im Sattel, mich hat noch keiner in den Sand gestreckt; auf den, der
’s kann, bin ich neugierig.« 143 Sie stünden einander politisch doch viel näher, als Mathilde wahrhaben wolle. Sie wolle ihr stets Kompaß sein.
Rosa Luxemburg versuchte, diesen Streit um ein äußerst diffiziles Problem von Linken zu überspielen, wußte jedoch auch keine
Erklärung für das wechselhafte Verhalten von Menschenmassen. Ihr Begriff von Massen war abstrakt und ihre Neigung ausgeprägt,
Bedürfnisse der Massen mit der eigenen Ideenwelt zu identifizieren. In ihrer Antwort auf Mathilde Wurms Kritik berief sie
sich auf das Wirken der Geschichte an sich: »Welche Enge des historischen Blicks, mein Lämmchen! Es gibt nichts Wandelbareres
als menschliche Psychologie. Zumal die Psyche der Massen birgt stets in sich, wie Thalatta, das ewige Meer, alle latenten
Möglichkeiten: tödliche Windstille und brausenden Sturm, niedrigste Feigheit und wildesten Heroismus. Die Masse ist stets
das, was sie nach Zeitumständen |548| sein muß, und sie ist stets auf dem Sprunge, etwas total anderes zu werden, als sie scheint. Ein schöner Kapitän, der seinen
Kurs nur nach dem momentanen Aussehen der Wasseroberfläche steuern und nicht verstehen würde, aus Zeichen am Himmel und in
der Tiefe auf kommende Stürme zu schließen! […] die ›Enttäuschung über die Massen‹ ist stets das blamabelste Zeugnis für den
politischen Führer. Ein Führer großen Stils richtet seine Taktik nicht nach der momentanen Stimmung der Massen, sondern nach
ehernen Gesetzen der Entwicklung, hält an seiner Taktik fest trotz aller Enttäuschungen und läßt im übrigen ruhig die Geschichte
ihr Werk zur Reife bringen.« 144
Sie warnte Mathilde Wurm vor Einseitigkeit. An dem Grundsatz, nationale, ethnische und religiöse Komponenten dem Kampf gegen
den Kapitalismus unterzuordnen, hielt Rosa Luxemburg konsequent fest: Was wolle sie mit den »speziellen Judenschmerzen? Mir
sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Putumayo, die Neger in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fangball spielen,
ebenso nahe.« 145
Mit der Dauer des Krieges und der wachsenden Zahl der Opfer steigerte sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung. Kontroversen
über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg innerhalb der herrschenden Kreise, die Übertragung der Obersten Heeresleitung an Hindenburg
und Ludendorff, zwei der reaktionärsten Militärs des Kaiserreichs, Ende August 1916, die Militarisierung der Produktion und
der Arbeitskräftebeschaffung durch das »Hindenburg«-Programm, ein großangelegter Kurs zur Steigerung der Rüstungsproduktion
und das »Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst« vom Dezember 1916 zeigten, wie durch Verschärfung der Militärdiktatur
auf einen deutschen »Siegfrieden« zugesteuert werden sollte, bevor die Volksmassen die Gefolgschaft aufkündigten.
Das Verhältnis zwischen den verschiedenen Richtungen in der deutschen Sozialdemokratie polarisierte sich in der Zeit von September
1916 bis April 1917. Auf der Reichskonferenz der Sozialdemokratischen Partei vom 21. bis 23. September 1916 gelang es dem
Parteivorstand nicht wie erhofft, »Festigung« der »Einheit der Partei« zu demonstrieren. Der Einfluß der Opposition erhöhte
sich, denn der bisher unentschiedene, |549| gemäßigte Kreis um Haase-Ledebour-Dittmann sah sich gezwungen, deutlicher als bisher zur Politik des Parteivorstandes Stellung
zu nehmen und die Beendigung des Krieges zu fordern. Die Führung der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft lud die gesamte
Opposition zu einer Konferenz am 7. Januar 1917 nach Berlin ein. Die Leitung der Spartakusgruppe empfahl in einem Rundschreiben
an ihre Vertrauensleute vom 25. Dezember 1916 die Teilnahme, um den Standpunkt der Linken kundzutun und mit anderen oppositionellen
Kreisen in der Partei Kontakt zu halten. Da z. B. die Spartakusgruppe und die Bremer Linksradikalen um Johann Knief darin
nicht übereinstimmten, konnten die Linken über ihr Auftreten keine Übereinkunft
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