Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Fingerspitzen fährt. Aber das Nichtmitmachenkönnen stimmt mich deshalb
nicht um ein Jota trüber, und es fällt mir nicht ein, mir durch Stöhnen über das, was ich nicht ändern kann, die Freude am
Geschehenden zu verkümmern.« 165
Tatsächlich war ihr Aktionsradius darauf beschränkt, Artikel über die russische Revolution für die Spartakusbriefe zu schreiben
und anderen Mut zu machen. Soweit es bei den spärlichen Berichten aus Zeitungen und von Besuchern möglich war, verfolgte Rosa
Luxemburg »das grandiose welthistorische Drama an der Newa« 166 aufmerksam. Sie war geübt, aus Einzelheiten Zusammenhänge abzuleiten und revolutionäre Vorgänge scharfsinnig zu analysieren.
In ihrem Artikel »Die Revolution in Rußland« vom April 1917 nahm sie das erste Mal außerhalb ihres persönlichen Briefwechsels
Stellung. Sie betonte, daß der Sieg über den Absolutismus nur ein schwacher Anfang und es mit Sicherheit zu erwarten sei,
daß der Liberalismus an Entschlossenheit verliere und bald sein wahres Gesicht zeigen werde. Denn von ihm seien revolutionäre
Umwälzungen zugunsten der Arbeiter und Bauern nicht zu erwarten. Das russische Proletariat komme nicht umhin, das Programm
von 1905 wieder aufzurollen und durchzusetzen. Demokratische Republik, Achtstundentag und Enteignung des Großgrundbesitzes
stünden als erstes auf der Tagesordnung. Am dringlichsten aber sei es, den imperialistischen Krieg zu beenden. »Die Aktion
für den Frieden kann eben in Rußland wie anderwärts nur in einer Form entfaltet werden: als revolutionärer Klassenkampf gegen
die eigene Bourgeoisie, als Kampf um die politische Macht im Staate.« 167
Mit aller Bestimmtheit schrieb sie, die künftige Entwicklung der Revolution hinge nicht zuletzt vom deutschen Proletariat
ab. Wann würde es begreifen, daß die jetzt im Osten fechtenden Truppen nicht mehr gegen den Zarismus, sondern gegen |560| die Revolution Front machten? Ein Verharren in der Haltung eines gehorsamen Kanonenfutters hieße, die russischen Brüder in
der Revolution zu verraten.
In weiteren Artikeln über den Gang und das Echo der Ereignisse in Rußland ließ es Rosa Luxemburg nicht an beißendem Spott
fehlen über den heuchlerischen Umgang der europäischen Mächte mit der Revolution und die Skepsis in bestimmten Kreisen der
internationalen Arbeiterbewegung. Nach wie vor vertraute sie auf die Kraft des russischen Proletariats: Es könnte in der Revolution
»Wunder« vollbringen, sogar eigene Organisationen aufbauen – wenn es vom Ausland nicht im Stich gelassen und einen wirklich
sicheren Frieden ertrotzen würde.
Der ungeheuren Schwierigkeiten war sich Rosa Luxemburg von Anfang an bewußt. Die beiden imperialistischen Bündnissysteme in
Europa, die Entente und der Dreibund der Mittelmächte, seien für die russische Revolution gleichermaßen gefährlich. Am 5.
November 1916 hatten die Mittelmächte das Königreich Polen proklamiert, d. h. aus dem bisherigen Russisch-Polen sollte ein
»selbständiger« Staat mit erblicher Monarchie und konstitutioneller Verfassung gebildet und eng mit Deutschland und Österreich-Ungarn
verbunden werden. Dies ließ sie unheilvolle Entwicklungen ahnen: »Schon jetzt bedeutet die Okkupation des unglückseligen ›unabhängigen
Polens‹ durch die Deutschen einen schweren Schlag gegen die russische Revolution. Ist doch dadurch die Operationsbasis der
Revolution eingeengt, ein Land, das stets einer der flammendsten Herde der revolutionären Bewegung war und politisch 1905
mit an der Spitze der russischen Revolution marschierte, gänzlich ausgeschaltet, sozial in einen Kirchhof, politisch in eine
deutsche Kaserne verwandelt. Wer garantiert nun, daß morgen, nach Friedensschluß, sobald der deutsche Militarismus seine Pranken
aus dem Eisen befreit hat, er sie nicht dem russischen Proletariat in die Flanke schlägt, um der gefährlichen Erschütterung
des deutschen Halbabsolutismus vorzubeugen?!« 168 So klarsichtig schrieb Rosa Luxemburg im Mai 1917 über die Gefahren, die ein Jahr später mit dem Frieden von Brest-Litowsk
noch viel drohender wurden.
Jetzt, wo eine Revolution ausgebrochen war, empfand sie es |561| als äußerst unbefriedigend, sich auf theoretische Erörterungen und Prognosen beschränken zu müssen. Ungeduldig wartete sie
darauf, »wieder dem Weltklavier mit allen zehn Fingern in die Tasten fallen« zu können. Es war nur die halbe Wahrheit, wenn
sie schrieb, sie
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