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Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.

Titel: Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annelies Laschitza
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gab es nicht. Das Budgetrecht und die damit verbundene Möglichkeit, der Regierung
     Mittel zu verweigern, sicherte dem Reichstag einen bestimmten Einfluß. Einen direkten Einfluß auf die Exekutive hatte er nicht.
     Dadurch, daß er die Einheit des Reiches repräsentierte, besaß er eine in erster Linie politisch-moralische Bedeutung. Das
     Reichstagswahlrecht war eine Errungenschaft des Volkes. |80| Da die Aufnahme von demokratischen Grundrechten wie Versammlungs-, Rede und Organisationsfreiheit in die Reichsverfassung
     gescheitert war, blieb in den meisten Einzelstaaten die politische Gesetzgebung aus der Reaktionszeit der fünfziger Jahre
     wirksam. Hinzu kam, daß in Einzelstaaten und in Gemeinden reaktionäre Wahlsysteme – wie in Preußen das Dreiklassenwahlrecht
     – weiterbestanden, die den Junkern und der Großbourgeoisie eine beherrschende Stellung in den Landesparlamenten sicherten
     und in vielen Fällen den Vertretern der unteren Schichten und Klassen keine Möglichkeit boten, gewählt zu werden. Deutschland
     war durch seine ökonomischen Potenzen und seine militärische Stärke eine europäische Großmacht, die auf Militarismus, Nationalismus
     und Chauvinismus setzte und skrupellose Ansprüche auf außereuropäische Kolonialgebiete bzw. Einflußsphären stellte.
    Ihren Freunden Nadina und Boris Kritschewski gestand Rosa Luxemburg, daß sie schon zwei Stunden nach ihrer Ankunft Berlin
     und die Deutschen satt bekommen hätte. Aber was sollte sie Obdachlose denn tun?
» Ein Hans ohne Land wie ich bin,
muß auch mit dem deutschen Vaterland
vorlieb nehmen
.« 6 Und wie gewöhnlich in solchen Situationen suchte sie Halt in der Literatur. Sie griff nicht etwa zu Gottfried Keller, um
     von der eben verlassenen Schweiz mit ihrer wohltuenden Gemütlichkeit, Kultur und Reinlichkeit zu träumen, oder zu Adam Mickiewicz,
     um in Gedanken in die ihr nähergerückte polnische Heimat zu fliehen. Rosa Luxemburg nahm sich Ludwig Börne vor, den die Deutschen
     nicht mehr lesen würden, wie sie Robert Seidel berichtete. Sie wisse schon, der Vormärz-Börne klinge wie aus einer anderen
     Welt. Aber er wecke in ihr frische Gedanken und lebhafte Empfindungen. Seine »Briefe aus Paris« inspirierten sie, ähnlich
     wie Börne in Briefen an vertraute und geliebte Menschen Gedanken über sich und die neue Umgebung in Berlin mitzuteilen. 7
    Endlich fand sie eine Unterkunft, die ihr gefiel. Nach mindestens 75 Zimmerbesichtigungen entschied sie sich am 20. Mai für
     die Cuxhavener Str. 2, Gartenhaus I, am Tiergarten und zog am 26. Mai dort ein. »Das Zimmer entspricht so ziemlich allen Ansprüchen:
     1. Stock, elegant möbliert, mit einem Pianino, sonnig, mit einem kleinen Balkon, grün bewachsen, Mit Schreibtisch, |81|
Schaukelstuhl
, einem Spiegel über die ganze Länge der Wand, der Balkon und das Fenster gehen in den Garten, und ringsum sieht man nur Grünes,
     die Frau ist sympathisch und redlich, aber … aber ich habe fast Angst, es zu schreiben – 33 Mark! Glaube mir, Dziodziu, ich
     hätte es nicht genommen, wenn auch nur die kleinste Möglichkeit bestünde, ein anderes zu nehmen …« 8
    Nun fehlte ihr, um politisch tätig sein zu können, nur der Heimatschein, der ihr von der Polizei über die preußische Staatsbürgerschaft
     ausgestellt werden mußte. Für drei Mark Bestechungsgeld beschleunigte der zuständige Polizeiassessor das Verfahren, so daß
     sie am 31. Mai das begehrte Dokument ausgehändigt bekam. Noch vor dem Ende dieser Prozedur nahm sie zum Parteivorstand der
     deutschen Sozialdemokratie Kontakt auf, der seinen Sitz in der Katzbachstraße 9 hatte.
    Die deutsche Sozialdemokratie besaß mit August Bebel und Paul Singer als Parteivorsitzenden, mit Wilhelm Liebknecht als Chefredakteur
     des »Vorwärts« und Karl Kautsky als leitendem Redakteur der »Neuen Zeit« und mehr als 100   000 Mitgliedern gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der internationalen Arbeiterbewegung ein hohes Ansehen. Sie war eine revolutionäre
     Arbeiter- und Oppositionspartei, die nach dem in Erfurt 1891 beschlossenen Parteiprogramm die Überwindung des Kapitalismus
     und die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft ihr Fernziel nannte. »Diese gesellschaftliche Umwandlung«, hieß es im
     Programm, »bedeutet die Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des gesamten Menschengeschlechts. […] Aber sie kann
     nur das Werk der Arbeiterklasse sein […]. Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische

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