Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Für die Antonhütte übersetzte sie ein Flugblatt. Sie hielt ihre Aufgaben für sinnvoll und atmete auf. »Den
bestimmenden und stärksten Eindruck«, gestand sie ihrem Leo, »hat die hiesige Gegend auf mich gemacht: Kornfelder, Wiesen,
Wälder, weite Flächen und polnische Sprache, polnische Bauern ringsum. Du hast keinen Begriff, wie mich das alles beglückt.
Ich fühle mich wie neugeboren, als ob ich wieder Boden unter den Füßen gefunden hätte. Ich kann mich nicht satt hören an ihren
Reden, satt riechen an der hiesigen Luft! Gestern mußte ich auf den zurückgehenden Zug in Leschnitz etwa eine Stunde warten.
Was bin ich dort im Getreide herumgekrochen und habe Kornblumen und Klatschmohn gepflückt. Es hat mir nur eines zum Glück
gefehlt, eigentlich nur ›einer‹.« 18
An Leo dachte sie gewiß oft, doch überwog momentan der Drang, sich unter völlig neuen Gegebenheiten allein zu erproben, neuen
Freunden zu imponieren. Sie wollte jetzt weder in |86| sich hineinhorchen noch inneren Regungen nachgeben. Leo, dem das mißfiel, reagierte zornig. Sie könne nicht so wie bisher
weiterleben, verteidigte sich Rosa Luxemburg: »Instinktiv lege ich jetzt nur Wert auf irgendwelche reale Taten, Ergebnisse
etc., und mir scheint – es kann sein, daß das falsch ist –, daß auch für Dich nur das jetzt Wert hat, was hingegen darüberhinaus,
ist vom Teufel.
Es kann leicht sein, daß dieser Zustand, der mir erst gestern voll zum Bewußtsein kam, die eigentliche Ursache jener inneren
Leere ist, über die ich Dir klagte, es ist vielleicht einfach der Widerwille und die Verachtung aller persönlichen inneren
Regungen
und die Konzentration aller Aufmerksamkeit auf die sichtbaren Ergebnisse des Handelns. Das wäre übrigens nichts Verwunderliches;
wir leben in der letzten Zeit so ausschließlich erfüllt von dem Wunsch und dem Ausschauen nach irgendwelchen Resultaten, daß
sich das auf diese Weise in mir niedergeschlagen haben kann«. 19
Rosa Luxemburg trat auch in Liegnitz und Goldberg auf. »Gestern war es in Goldberg ausgezeichnet«, schrieb sie am 15. Juni
1898 an ihn, »die Leute drängten sich so zahlreich, daß um den Saal an den Fenstern mehr standen als im Saal (Parterre), sie
standen einer auf dem anderen hinter den Fenstern. Die
Genossen
sagen, daß sie noch keine so zahlreich besuchte Versammlung hatten. Ich erhielt natürlich ein dreifaches
›Hoch‹
auf die Sozialdemokratie und heute morgen vor der Abfahrt einen herrlichen Strauß Rosen und Reseda.« 20 Bei den Wahlen selbst sei der Druck der Zentrumsleute und der Polizei so groß gewesen, daß für die einzelnen Arbeiter wirklich
Mut dazu gehörte, sozialdemokratisch zu wählen. »Zahlreiche Kündigungen der Arbeit, einige Fälle von Verhaftungen unserer
Flugblattverbreiter, vor allem aber die noch ganz patriarchalischen Mittel der Polizei und der Zentrumsleute in den Wahllokalen,
wo sie vielfach unsere Genossen mit Zetteln einfach wegjagten, einigen Wählern die Zettel einfach aus der Hand rissen und
öffneten – alles dies sollte die Arbeiter von der Stimmabgabe für den sozialdemokratischen Kandidaten abschrecken.« 21
Am 17. Juni fuhr Rosa Luxemburg nach Berlin zurück. »Ich sehe aus wie der Tod und kann kaum kriechen« 22 , stellte sie fest. Zufrieden konnte sie vermelden, daß die deutsche Sozialdemokratie |87| bei den Reichstagswahlen am 16. Juni 1898 im Industrierevier des oberschlesischen Regierungsbezirks Oppeln, wo Rosa Luxemburg
an der Seite von August Winter im Wahlkampf gestanden hatte, einen beachtlichen Durchbruch erzielt hatte. In einer Hochburg
der klerikalen Bewegung, wo die Sozialdemokratie 1893 nur 4728 Stimmen erringen konnte, steigerte sie 1898 ihren Anteil auf
25 353 Stimmen.
» Mit der bisherigen ungeteilten Herrschaft des Zentrums in Oberschlesien ist es für immer vorbei«,
schrieb Rosa Luxemburg. 23 Insgesamt stimmten im Deutschen Reich 2 ½ Millionen Wahlberechtigte, d. h. 27,1 %, für die deutsche Sozialdemokratie, die
daraufhin mit 56 Abgeordneten in den Reichstag einzog. Zum Fraktionsvorstand mit dem Vorsitzenden Paul Singer gehörten Ignatz
Auer, August Bebel, Heinrich Meister und Wilhelm Pfannkuch.
Für sie persönlich habe die Agitationstour folgendes gebracht: Erstens habe sie Beziehungen zu den beiden Redakteuren Bruhns
und Schoenlank geknüpft, die ganz zu ihrer Verfügung ständen; zweitens wäre sie nun schon in einer Ecke Deutschlands in den
Ruf eines
Weitere Kostenlose Bücher