Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Ausbeutung ist notwendigerweise
ein politischer Kampf. […] Sie kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in
den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein.« 9 Im zweiten Teil ihres Programms mit den unmittelbaren politischen und sozialen Forderungen verlangte die deutsche Sozialdemokratie
allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahl- und Stimmrecht für alle Reichsangehörigen über 20 Jahre ohne Unterschied
des Geschlechtes; zweijährige Gesetzgebungsperioden und Aufhebung jeder Beschränkung politischer Rechte; Selbstverwaltung
und Selbstbestimmung |82| des Volkes in Reich, Staat, Provinz und Gemeinde; Verantwortlichkeit der Behörden; volle Koalitions- und Versammlungsfreiheit;
Volkswehr anstelle des stehenden Heeres; Abschaffung aller die Frau benachteiligenden Gesetze; Weltlichkeit der Schule. Ziel
des Kampfes gegen den Monarchismus war eine demokratische Republik, ohne daß dies so direkt im Programm ausgesprochen wurde,
weil die Partei sich vor einer neuen Sozialistenverfolgung schützen wollte. Gefordert wurde des weiteren eine umfassende nationale
und internationale Arbeiterschutzgesetzgebung, der Achtstundentag, das Verbot der Kinderarbeit, die Beseitigung der Gesindeordnungen
und die rechtliche Gleichstellung der Landarbeiter und Dienstboten mit den Industriearbeitern.
Bei den letzten Reichstagswahlen 1893 hatten für die Sozialdemokratische Partei 1786738 Wähler gestimmt. Die Partei gab über
70 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von etwa 400 000 Exemplaren heraus. Mit dem Dietz Verlag in Stuttgart und dem »Vorwärts«-Verlag in Berlin verfügte sie über enorme Publikationsmöglichkeiten
und Einnahmequellen. Gewählte Mitglieder des Parteivorstandes waren 1898: August Bebel und Paul Singer als Vorsitzende, A.
Gerisch als Kassierer, Ignatz Auer und Wilhelm Pfannkuch als Sekretäre sowie E. Dubber, A. Kaden, H. Koenen, H. Meister, Th.
Metzner, C. Oertel und Clara Zetkin als Kontrolleure.
Als Rosa Luxemburg nach Deutschland übersiedelte, befand sich die deutsche Sozialdemokratie mitten im Wahlkampf. August Bebel
und Wilhelm Liebknecht hatten in den vorangegangenen Monaten die Debatten im Deutschen Reichstag über das Flottengesetz und
über den Nachtrag für den Reichshaushaltsetat genutzt, um die Gegnerschaft der deutschen Sozialdemokratie zum Militarismus,
zur Flottenrüstung und zur Kolonialpolitik zum Ausdruck zu bringen. Die herrschenden Kreise hatten nicht verhindern können,
daß Bebel und Liebknecht ihnen in der Debatte über die zusätzlichen Millionen, die sie für die Befestigung Kiautschous verlangten,
das sie annektiert hatten, die heuchlerische Maske des Patriotismus herunterrissen. Der Staatssekretär des Auswärtigen, Graf
von Bülow, gestand im parlamentarischen Gefecht, daß es in Kiautschou um eine strategische Position ging, die bei der Neuaufteilung
der |83| Welt einen bestimmenden Einfluß in Ostasien sichern sollte. 10 »Wozu denn der ganze jetzige Lärm in Asien und anderswo?« hatte Wilhelm Liebknecht am 27. April 1898 im Reichstag gefragt
und erklärt: »Als Antwort gibt man uns ein neues Wort, das heißt ›Weltpolitik‹. Weltpolitik! Ja, was ist Weltpolitik? Ich
habe immer gedacht, daß Deutschland eine wirkliche Weltmacht sei; und die Politik einer Weltmacht ist doch eigentlich ›Weltpolitik‹
– aber die moderne Weltpolitik ist etwas anderes. Es ist eine Politik, die sich eigentlich in alles, was in der ganzen übrigen
Welt vorgeht, einmischt, eine Politik, die sich einbildet, die Weltvorsehung zu spielen, und die will, daß Deutschland der
Weltgendarm sein soll, der überall dafür zu sorgen hat, daß der deutsche Einfluß maßgebend ist und Ruhe und Ordnung herrscht.« 11 Durch Abenteuer im Ausland aber könne der Blick des Volkes nicht vom Elend im Inland abgelenkt werden. Dieser Despotenkniff
verfange nicht mehr, dafür werde die deutsche Sozialdemokratie auch im jetzigen Wahlkampf sorgen.
Damit sie über die politischen Verhältnisse orientiert war, las Rosa Luxemburg täglich viele Zeitungen, die sie abonnierte
oder in der Bibliothek auslieh. Wichtige Meldungen, besonders aus dem »Vorwärts« und der »Vossischen Zeitung«, schnitt sie
aus. In thematisch geordneten Schubladen bewahrte sie die gesammelten Materialien auf, um sie jederzeit für Artikel oder Reden
parat zu haben. Die »Leipziger Volkszeitung« und die »Sächsische
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