Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
die Woge sie auch in seelische Tiefs stürzen würde, in denen die Sehnsucht nach dem Geliebten sie |78| weit mehr quälte als die Genugtuung, ihn durch das örtliche Getrenntsein zu mehr Zärtlichkeit zu bewegen. Die langen Briefe,
die sie in den kommenden Wochen fast täglich schrieb, zeigten wie ein Stimmungsbarometer ihren Gemütszustand an. Jubeltöne
und Wehklagen wechselten einander ständig ab. Frohes Entdecken stand neben traurigem Erinnern. Rosa Luxemburg begann sich
auch selbst ernsthafter zu beobachten, grübelte über ihren Hang zur Einsamkeit nach, der sie ebenso bewegte wie ihre Empfänglichkeit
für schmeichelnde Komplimente. Ihr Ehrgeiz, überall sofort durch Können und Selbstsicherheit aufzufallen, zehrte an ihren
Kräften. Kaum hatte sie beschrieben, wie schwer alles für sie sei, versicherte sie auch schon: »Hab keine Angst, mein Gold,
ich werde energisch sein und mich nach besten Kräften bemühen, alles zu tun. Ich stelle mir jetzt auch die Aufgabe, mein Ziel
zu erreichen, mag kommen, was da wolle.« 4
Am 16. Mai 1898, morgens 6.30 Uhr, traf Rosa Luxemburg mit dem Schnellzug in Berlin ein. Da W. I. Schmuilow, ein russischer
Sozialdemokrat, der seit rund zehn Jahren in Deutschland lebte, nicht rechtzeitig auf dem Bahnhof erschien, stand sie erst
einmal ratlos da. Mühsam schleppte sie ihre Pakete zur Straßenbahnhaltestelle und fuhr zu polnischen Freunden, die ihre Sachen
unterstellten und sie bei der Zimmersuche unterstützten. Berlin mit seinen mehr als 2 ½ Mill. Einwohnern teilte mit Paris,
London und anderen Großstädten die Eigentümlichkeit, daß, wie es in Baedekers Handbuch hieß, die vornehme Welt im Westen wohnte
und der Osten Sitz der Fabrik- und Gewerbetätigkeit war. Rosa Luxemburg orientierte sich in ihrer Zimmersuche auf Berlin-West,
Nordwest und Charlottenburg.
Einen Tag nach ihrer Ankunft berichtete sie Leo Jogiches von ihren ersten Eindrücken: »Die Zimmer sind allgemein überall schrecklich
teuer, selbst hier in Charlottenburg kostet das billigste Zimmer, das überhaupt für mich passen würde, 28 Mark. Von einem
getrennten Schlafraum ist natürlich nicht einmal zu träumen […]. Einstweilen habe ich ein Zimmer zu 1 Mark täglich […]. Apropos
›Soldat‹, tatsächlich ›war und ist‹ der überall. Tatsächlich sind die Offiziere der herrschende Stand hier; sie wohnen auch
in möblierten Zimmern, und überall stoße ich entweder auf ein Zimmer nach einem |79| Offizier oder auf Offiziersnachbarschaft. In Anbetracht der Gefahr, die Dir von daher drohte, und Deiner ständigen Furcht,
daß Dir die Frau ›nicht mit einem Offizier durchbrennt‹«, spöttelte sie, »meide ich natürlich eine solche Nachbarschaft wie
die Pest. Aber stell Dir vor, die Zeichnungen von Thöny sind gar keine Karikaturen, sondern einfach Fotografien nach der Natur
– davon läuft hier eine Million auf den Straßen herum. […] Ich fühle mich, als wäre ich ganz allein und fremd hierhergekommen,
um Berlin ›zu erobern‹, und wenn ich es ins Auge fasse, wird mir bange angesichts seiner kalten und mir gegenüber gleichgültigen
Macht.« 5
Das Deutsche Reich, in dessen Hauptstadt sich Rosa Luxemburg einmietete, existierte als bürgerlicher Nationalstaat seit 18.
Januar 1871. Es war ein Bundesstaat, in dem vier Königreiche, sechs Großherzogtümer, fünf Herzogtümer, sieben Fürstentümer
und drei Freie Städte nebeneinander bestanden. Elsaß-Lothringen wurde direkt vom Reich verwaltet. Diese föderative Struktur
sicherte auch die absolute Vormachtstellung Preußens im Reich. Sie zementierte die reaktionären Machtverhältnisse und hemmte
das nationale Zusammenwachsen auf demokratischer Grundlage. Drei autoritäre Institutionen lenkten die staatliche Macht: der
aus Bevollmächtigten der Einzelstaaten bestehende Bundesrat als legislatives Organ neben dem Reichstag, der Kaiser aus dem
Haus der Hohenzollernmonarchie mit seiner Befehlsgewalt über das Militär und der Entscheidungsbefugnis über Krieg und Frieden
sowie über alle internationalen Verträge und der Reichskanzler. Der Kanzler wurde vom Kaiser berufen, leitete die gesamte
Reichsverwaltung und hatte den Vorsitz im Bundesrat. Bis 1918 war er fast immer zugleich preußischer Ministerpräsident. Dem
Reichstag, der nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht für Männer über 25 Jahre gewählt wurde, war der Kanzler
nur formal verantwortlich. Ein Frauenwahlrecht
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