Rosa Rosen
ich anderes im Kopf haben als mein Liebesglück. Aber was sollte das denn sein? Wir müssen in diesen schweren Zeiten doch irgendetwas Schönes finden, das uns am Leben erhält, oder etwa nicht?
Wir sind jetzt beide achtzehn und richtig erwachsen. Fünf Jahre ist es schon her, dass Ihr gegangen seid. Und die ganze Zeit habe ich Dich beneidet und wollte auch nach Amerika. Aber weißt Du was? Das möchte ich jetzt gar nicht mehr. Ich möchte nur noch bei meinem Nathan sein. Ach, ist die Liebe nicht schön?
Nathan hat Verwandte in der Schweiz und er sagt, wir sollen versuchen, dorthin zu kommen. Da wären wir in Sicherheit. Wenn Du also eine Weile nichts von mir hörst, dann bin ich auf dem Weg in die Freiheit.
Was gibt es hier Neues? Vor Kurzem haben sie beschlossen, dass wir nur noch nach 15:30 Uhr einkaufen dürfen. Und sie haben uns den Telefonanschluss gekündigt. Wir dürfen nun nicht einmal mehr Telefon haben.
Es gibt außerdem für Juden eine Ausgangssperre. Wir dürfen uns zwischen 21:00 Uhr abends und 5:00 Uhr morgens nicht draußen aufhalten. Ich komme mir vor wie ein kleines Kind, so viele Vorschriften werden mir gemacht.
Ich würde so gern sehen, wie Du jetzt aussiehst. Hast Du nicht ein Foto, das Du mir schicken kannst? Ich lege auch eins anbei.
Was ich Dir noch erzählen muss: Die Leute, die nach Euch in Eurem Haus gewohnt haben, hatten sich ja weiterhin gut um Deinen Rosengarten gekümmert. Doch die sind weg. Ich weiß nicht, ob sie sich davon gemacht haben oder ob sie abgeholt wurden. Es verschwinden dieser Tage so viele Menschen, dass ich mich frage, wo die in Wahrheit alle hin sind. Wie viele von diesen Arbeitslagern gibt es? Und was muss man Schlimmes getan haben, um dorthin gebracht zu werden? Ich habe schon Angst, auch nur ein falsches Wort zu sagen. Was, wenn wir die Nächsten sind?
Was ich aber eigentlich berichten wollte, ist, dass da jetzt neue Bewohner sind in Eurem alten Haus. Und als ich neulich dort längs kam, sah ich, dass sie weg sind, Deine Rosen. Der Garten ist leer! Sie müssen sie alle rausgerissen haben! Ich konnte es gar nicht fassen. Deine geliebten rosa Rosen. Es tut mir so leid, Dir das schreiben zu müssen. Ich weiß ja auch nicht, ob Du immer noch so an ihnen hängst, immerhin ist es ganze fünf Jahre her, dass Du in Deinem Rosengarten gesessen hast.
Kannst Du noch immer ihren wundervollen Duft riechen? Manchmal träume ich davon. Wie wir beide zwischen den Rosen sitzen. Wir sind wieder dreizehn. Und wir sind fröhlich. Und es riecht so gut. So zauberhaft gut.
Wir stecken uns eine Rose ins Haar und sind wunderschön und wohlgenährt, und jung und frei. Unsere ganze Zukunft liegt noch vor uns. Wir haben viele Pläne und werden sie alle verwirklichen.
Und die Zukunft ist eine andere. Eine Zukunft, in der alle Menschen gleich sind und in der es keinen Hass gibt und keinen Schmerz. In der es keinen Krieg gibt. In der wir beide für immer zusammen sein können.
Wäre das nicht schön, Abby? Doch dann erwache ich aus dem Traum und sehe die Realität. Und ich muss weinen. Weil nichts so gekommen ist, wie wir es uns erhofft hatten. Weil wir auseinandergerissen wurden und uns vielleicht nie wieder sehen.
Wir müssen beide ganz stark sein und die Augen schließen, Abby, und zusammen träumen … und dann ist alles wieder gut.
Deine Rachel
*
Abigail konnte sich noch gut daran erinnern, wie sehr sie dieser Brief berührt hatte. Und auch daran, dass danach eine ganze Weile gar nichts mehr von Rachel kam. Sie hatte sich unendlich große Sorgen gemacht, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte. Es war so gar nicht Rachels Art, monatelang nichts von sich hören zu lassen.
Doch dann dachte sie, dass der Krieg daran schuld sein musste. Vielleicht versandte die Post keine Briefe mehr oder man durfte keine mehr verschicken. Sie versuchte, sich alle möglichen Gründe einfallen zu lassen, nur um nicht auf den Gedanken zu kommen, dass Rachel vielleicht abgeholt worden war.
Doch dann, nach einem Jahr, kam ein neuer Brief von Rachel. Und Abigail war so erleichtert, dass sie ihrer Mutter weinend in die Arme fiel, als sie ihn ihr übergab.
*
14. September 1941
Liebe Abby,
ich hoffe, Dieser Brief erreicht Dich.
Ich habe Dir im letzten Jahr so viele Briefe geschickt und auf keinen eine Antwort erhalten. Und zuerst dachte ich, Du magst mir nicht mehr antworten oder Du hast meine Briefe nicht erhalten, weil Ihr womöglich umgezogen seid und jetzt eine neue Adresse habt. Doch
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