Rosa Rosen
Eltern und Dan mit, ich würde sie gern wiedersehen.
Wovon träumst Du, Abby? Hast Du dort in Amerika nicht alles, was Du brauchst? Oder gibt es Dinge, die ich mir gar nicht vorstellen kann, nach denen Du Dich sehnst?
Schreib bitte schnell zurück, Abby, meine liebste Freundin.
Herzlichste Grüße
Deine Rachel
*
Zuerst hatte Abigail sich über diesen Brief gewundert. Rachel hatte nur übers Essen geschrieben und nicht wie sonst über den Krieg. Doch dann kam ihr ein Verdacht: Öffneten die bei der Post etwa die Briefe und durchsuchten sie nach verschwörerischen oder antideutschen Inhalten? Bestimmt machten sie Stichproben. Wenn Rachel nun geschrieben hätte, dass sie gegen die Ungerechtigkeit und den Krieg war, wäre sie dann gleich verhaftet worden? Und mit ihr auch die nette Frau, die die Briefe für sie abschickte, Lisa Räth?
Abigail musste von nun an auch vorsichtig sein, was sie schrieb. Nicht, dass sie Rachel in Schwierigkeiten brachte.
*
Abigail betrachtete nun den Stapel Briefe, der neben ihr lag. Die, die sie bereits durchgegangen war, bildeten einen großen Stapel. Übrig war nur ein einziger Brief.
Sie wollte ihn nicht lesen. Nein, das konnte sie nicht. Wütend schmiss sie ihn zurück in die Schachtel. Darauf schmiss sie alles andere und machte den Deckel zu.
Sie stand auf und ging ins Bad. Als sie dort in den Spiegel sah, sah sie ein tränenüberströmtes Gesicht. Dass sie weinte, hatte sie nicht einmal bemerkt.
Sie ließ den Hahn laufen und füllte sich kaltes Wasser in die Hände, dann wusch sie sich die Tränen weg.
Als sie wieder aufblickte, nahm sie erneut ihr Spiegelbild wahr. Wie alt sie geworden war. Runzelig und faltig. Schön war sie schon lange nicht mehr. Immerhin war sie noch am Leben und konnte aufrecht gehen, das konnten nicht viele in ihrem Alter sagen. Neunzig Jahre hatte sie schon hinter sich, wie die Zeit verging.
Sie ging zu Bett und frierte trotz der dicken Decke. Und schlafen konnte sie auch nicht. Immer wieder musste sie an Rachel denken.
Irgendwann gab sie es auf und ging wieder zurück ins Wohnzimmer.
Sie wappnete sich und nahm den letzten Brief in die Hand.
*
20. Juli 1942
Liebe Abby,
wir mussten alle elektrischen Geräte abliefern, wir haben also nicht einmal mehr Lampen und sitzen hier bei Kerzenlicht. Ich hoffe also, meine Schrift ist leserlich.
Gestern kamen sie Vater holen. Sie hämmerten gegen die Tür und zeigten uns einen Haftbefehl. Er durfte nur einen Koffer packen und musste sofort mitkommen. Wir konnten uns nicht einmal richtig verabschieden. Ich weiß nicht, warum sie ihn geholt haben. Und ich weiß auch nicht, wo sie ihn hingebracht haben. Und ich denke mir, vielleicht ist es besser so, dass ich es nicht weiß.
Das alles hat Mama in Angst und Schrecken versetzt. Wie mich auch. Doch sie ist ganz hysterisch und sagt, wir müssen sofort weg, bevor sie uns auch noch holen kommen. Und das werden sie über kurz oder lang tun, so wie sie alle holen, bis keiner mehr übrig bleibt.
Ich musste meine Habseligkeiten zusammensammeln und gleich morgen wollen wir untertauchen. Um ins Ausland zu gehen, ist es zu spät. Hätte doch nur vorher jemand auf mich gehört – wir könnten jetzt alle in Sicherheit sein. Doch es macht keinen Sinn, jetzt Anschuldigungen zu äußern. Wir müssen das Beste aus unserer Situation machen.
L. R. hat gesagt, sie wird uns irgendwo unterbringen und uns mit dem Notwendigsten versorgen. Drücke uns die Daumen, dass alles gut geht.
Ich weiß nicht, ob wir es schaffen werden. Ich weiß nicht, ob sie uns finden und abtransportieren werden und auch in so ein Konzentrationslager schicken werden. Was mich wirklich stutzig macht, ist, dass keiner je wiederkommt. Ich kenne wirklich keinen, der zurückgekommen ist aus einem dieser Lager. Doch sie bringen mehr und mehr Leute dorthin. Die können doch gar nicht so viel Platz haben, oder?
Ich weiß auch nicht, ob Dich dieser Brief erreicht. Falls sie ihn aufmachen und lesen, wird er es nicht.
Ich möchte Dir aber noch sagen, wie lieb ich Dich hab. Und dass ich unsere gemeinsame Zeit niemals vergessen werde.
Ich denke so oft an Deinen Rosengarten, in dem wir so viele schöne Stunden verbrachten. Hast Du die getrockneten rosa Blütenblätter noch? Ich habe meine noch immer und ich werde sie mitnehmen und bei mir behalten.
Ich werde sie für immer bewahren, und wenn ich sie mit in den Tod nehme.
Abby, Du warst mir die beste Freundin, die sich ein Mädchen nur wünschen
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