Rosa
Kind bewirkt, dass man in ständiger Angst lebt, für den Rest seines Lebens von dem Moment an, in dem es geboren wird«, sagte sie. »Es ist so verletzlich. Man findet es auf dem Bauch in der Wiege und das Herz steht einem still. Es klettert aus seinem Laufstall, fällt auf den Marmorfußboden, und man denkt, es wäre tot. Es geht in die Schule, man weiß nicht, mit wem es Umgang hat, es fährt in einem Auto mit, jeden Moment kann es einem entrissen werden. Sie kommt zu spät nach Hause und unterbewusst wartet man auf einen Anruf mit der Nachricht, dass sie tot ist. Man redet sich ein, diese Erwartungshaltung sei ein Mittel, um sich auf den Schock des Verlusts vorzubereiten, ein Mechanismus, der einem zu überleben hilft. Doch wenn es so weit ist, gibt es nichts mehr, was man sich einreden kann, und man steht der Situation völlig schutzlos gegenüber.«
Ich betrachtete ihr Profil. »Sie brauchen nicht gleich das Schlimmste zu befürchten, solange sie nur vermisst wird«, sagte ich.
Sie lächelte dem Porträt rätselhaft zu. »Hinterher wurde mir natürlich klar, dass ich den Schock nur überleben konnte, weil sie noch lebt.«
Vielleicht saß sie zu oft vor der Teeverpackungsmaschine. »Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte ich.
»Ich träume von ihr«, sagte sie. »Es sind unruhige Träume, sie ist sehr durcheinander und orientierungslos.« Sie schwieg und wies mit einem Nicken auf das Porträt. »Die Quelle des Bewusstseins sind die Organe, in erster Linie das Gehirn, aber der Sitz der Seele ist das Herz.«
»Ist Ihre Tochter verstorben?«
»Das versuche ich Ihnen ja zu erklären«, sagte sie. »Sie saß bei meinem Mann im Auto.«
»Vor drei Jahren?«
Sie wandte kurz den Blick ab. »Am vierten Januar, nachts, kurz hinter Utrecht. Ein betrunkener Autofahrer.«
Bevor sie sich wieder dem Porträt zuwandte, sah ich einen Funken der Wut in ihren Augen aufblitzen. Oder der Entschlossenheit, manchmal kann man den Unterschied nicht erkennen. »Was genau erwarten Sie von mir?«, fragte ich.
»Ich möchte, dass Sie ihr Herz finden.«
Die Stille legte sich bleiern über den Raum. Mir kam nichts Besseres in den Sinn, als einfältig zu wiederholen: »Ihr Herz?«
»Ja, ist das ein Problem?«, fragte sie, als besprächen wir das ganz alltägliche Aufspüren einer vermissten Person.
Ich fing an zu begreifen. »Wurde ihr Herz transplantiert?«
»Als Siroun noch zur höheren Schule ging, kam sie eines Tages mit so einer Broschüre der Stiftung für Organspende nach Hause, sie hatten einen Informationsnachmittag gehabt. Das war mir ganz entfallen.«
»Und Sie wussten nicht, dass sie sich als Organspenderin hatte registrieren lassen?«
»Nein.« Eine verbitterte Pause. »Das kam mir gar nicht in den Sinn. Ich dachte, man müsse für so etwas doch wenigstens volljährig sein, aber inzwischen weiß ich, dass selbst ein zwölfjähriges Kind sich eintragen lassen kann. Sie trug auch keinen Organspendepass bei sich, davon hätte ich garantiert gewusst, aber es reicht offenbar, dass man in ein zentrales Register aufgenommen wurde.«
Das klang ziemlich missbilligend.
»Besitzen Sie selbst einen solchen Ausweis?«
»Nein.«
Eine dumme Frage. Diese Frau glaubte, dass das Herz der Sitz der Seele war. Als ihre Tochter an jenem Nachmittag aus der Schule kam, hatte sie sicher ebenso ablehnend reagiert, was für Rosa womöglich der Grund gewesen war, ihr zu verschweigen, dass sie sich aus Solidarität mit dem Rest der Klasse hatte registrieren lassen. Es fiel mir auf, dass sie ihre Tochter kein einziges Mal Rosa nannte, obwohl dies ihr erster Name war. Für alle anderen war das Mädchen wahrscheinlich einfach Rosa Reider gewesen.
»Irgendjemand lebt mit dem Herzen Ihrer Tochter«, sagte ich. »Und Sie möchten, dass ich diese Person aufspüre. Warum?«
Sie zögerte, doch ihr erster Eindruck hatte ihr vielleicht auch verraten, dass ich kein Roboter war. »Sie braucht mich«, sagte sie.
»Möchten Sie wissen, ob es an der richtigen Stelle ist?«
»Darum geht es nicht.«
»Worum dann? Um Reinkarnation?«
Sie erhob sich mit einem Ruck. »Sie sollten nicht spotten.«
Ich stand ebenfalls von meinem Sessel auf und kehrte dem Porträt den Rücken zu, um ihr in die Augen schauen zu können. »Ich spotte nicht«, erklärte ich. »Aber ich kann keinen Auftrag annehmen, ohne zu wissen, was ich tue und warum.«
Ich liebe die Stille. Discos und Supermärkte vermitteln mir häufig das Gefühl, dass Stille ein Attribut des Himmels ist.
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