Rosa
In manchen Städten gibt es spezielle Stillezentren, kapellenartige Räumlichkeiten, in denen man für kurze Zeit dem Tumult der Kalverstraat oder Hoog Catharijne entgehen kann. In einem solchen Andachtsraum herrscht normale Stille. Hier jedoch herrschte die totale Stille, in einem Zimmer, in dem sich nur ein Porträt, eine armenische Frau und ich befanden. Als keiner von uns etwas sagte, begann die Stille so ohrenbetäubend zu dröhnen, dass ich mich nach einer Weile fragte, ob die Hölle nicht dem Himmel vorzuziehen war.
»Ich habe niemanden mehr«, erklärte Arin Reider schließlich. »Ich bin reich und allein. Siroun war alles, was ich besaß. Sie lebt noch, in ihrem Herzen. Sie versucht, in meinen Träumen Kontakt zu mir aufzunehmen. Ich spüre, dass sie Hilfe braucht.« Wieder schwieg sie für einen Augenblick und sagte dann, als wolle sie mir entgegenkommen: »Vielleicht hat die Frau, die ihr Herz trägt, Hilfe nötig. Ich kann ihr helfen, ich habe keinen anderen Erben.«
Die Menschen brauchen von jeher mehr als das, was das normale Leben zu bieten hat, vielleicht weil sie selten an sich selbst genug haben. Wir kämpfen uns durch eine Epoche der Sekten, der Religion und der fanatischen Auswüchse, als seien wir zurückgefallen in die dunklen Jahrhunderte der Kreuzzüge und der Inquisition. In früheren Jahren hatten sich ganze Bevölkerungsgruppen eifrig mit spiritistischen Experimenten, Telepathie, Ufos, übersinnlichen Wahrnehmungen und Wunderheilern beschäftigt. CyberNel war so sensibel wie ein FBI-Profiler für Atmosphären und Stimmungen und dafür, was die Wände rund um einen Tatort ihr verrieten, und auch ich hatte Träume, die ich schwer erklären konnte. Zum Beispiel von einem Freund, der Abschied von mir nahm. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass er in derselben Nacht verunglückt war. Ein Parapsychologe erklärte mir, dass der Geist in Verwirrung geraten kann, wenn er durch ein gewaltsames, plötzliches Ereignis aus dem Leben gerissen wird, und dass er eine Zeit lang orientierungslos umherirrt, weil er den Weg zu seinem nächsten Ziel nicht finden kann.
Vielleicht war es Rosa Siroun ähnlich ergangen.
Aber vielleicht sollte ich die Metaphysik auch einfach vergessen und mit den Füßen auf dem Boden bleiben. Vielleicht suchte Arin Reider Bodosian nach einem Erben, das war wenigstens etwas Konkretes. Eine einsame Frau, die in der Hölle ihrer Stille lebte. Sie wollte ihre Tochter wiederhaben, oder jemanden, in dem sie ihre Tochter sehen konnte, eine Illusion von Verwandtschaft, eine Stellvertreterin.
»Bei dem Empfänger kann es sich ebenso gut um einen Mann handeln«, bemerkte ich.
»Es ist eine Frau«, erwiderte sie.
»Hat man Ihnen das gesagt?«
»Nein, das braucht man mir nicht zu sagen.« Sie ging abrupt zur Tür. »Wir können nebenan weiterreden.«
Ich seufzte und warf einen letzten Blick auf das Porträt. Ein normaler Auftrag wäre mir lieber gewesen, eine vermisste Tochter, die von ihrer Mutter genug hatte und in eine Sekte von Gehirnwäschern gelockt worden war oder sich Hals über Kopf in einen Langstrecken-Solosegler verliebt hatte, sodass Nel und ich endlich einmal auf die Jungferninseln kamen. Außerdem sehnte ich mich inzwischen nach der normalen Welt, in der man eine Viertelstunde herumkurven musste, um einen Parkplatz an der Gracht zu ergattern, ja sogar nach der Radkralle, die man mir inzwischen garantiert verpasst hatte, nach frischer Luft, der Straße nach Rumpt, den Armen und dem klaren Kopf von CyberNel.
Wir überquerten den Flur und betraten einen Raum, der ebenfalls zur Vorderseite hin lag und ein großes Fenster auf die Gracht besaß. Die Stille wirkte hier weniger drückend, vielleicht weil es sich um ein Direktionsbüro handelte, mit lebendigen Dingen wie einem Telefon auf dem antiken Schreibtisch, einem Computer, einem Monitor, über den Kurse und Börsenberichte wanderten, einem Konferenztisch, Büchern, Dokumenten, einer Luftaufnahme von einer Fabrik in Zaandam. Arin Reider schaltete den Monitor aus. Sie sah, dass ich die Luftaufnahme betrachtete, und sagte: »Ich fahre nie mehr dorthin. Wenn die Direktion mich geschäftlich braucht, kommt man hierher zu mir.«
Wir saßen an dem Konferenztisch, sie am Kopfende. Ich zückte mein Notizbuch, wählte einen Kugelschreiber mit dem Logo Reider Industries aus einem Lederbehälter auf dem Tisch und notierte mir das Datum des Unfalls.
»Das wird nicht einfach werden«, gab ich zu bedenken. »Soweit ich weiß, sind
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