Rosa
ältere Kopie des Porträts.
»Es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen. Ich bin Arin Reider.«
»Max Winter.« Arin?
Sie begrüßte mich mit kräftigem Händedruck. »Mein Rechtsanwalt, Hendrik Rupke, hat Sie mir empfohlen.« Auf mein Stirnrunzeln hin erklärte sie mir, Rupke sei Partner in der Kanzlei von Louis Vredeling.
Jetzt begriff ich den Zusammenhang. Ich hatte Thom Niessen, einem jungen Rechtsanwalt und inzwischen Schwiegersohn und angehender Nachfolger des alten Louis, einmal aus einer heiklen Lage geholfen. Seitdem äußerte er seine Dankbarkeit, indem er mir regelmäßig Klienten vermittelte. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte ich.
Ihre dunklen Augenseen musterten mich so lange, dass es schon fast peinlich wurde. »Gut«, sagte sie dann. »Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
»Nein, vielen Dank. Was meinen Sie mit ›gut‹?«
»Für mich ist der erste Eindruck wichtig.«
»Dabei ist kaum etwas so trügerisch.«
»Aber in diesem Fall doch nicht?«
Ihre Frage suggerierte Gegenseitigkeit. Mein erster Eindruck war jedoch zwiespältig. Sie wirkte wie eine intelligente, selbstbewusste und äußerst attraktive Frau, doch neben der Sinnlichkeit, die sie gewiss ausstrahlte, umgab sie auch etwas Düsteres und Unnahbares, als sei die Zeit des ernsthaften Fotos von vor fünfundzwanzig Jahren zu einem permanenten Rätsel geronnen. »Vielleicht meditiere ich nicht genügend«, sagte ich.
Sie lächelte nachsichtig. »Ich wahrscheinlich auch nicht. Was immer Henri auch sagt.«
»Jetzt bin ich aber gespannt.«
»Manchmal möchte ich ganz einfach allein sein. Dazu brauche ich kein Zen und keine Sitharmusik und die Menschen in meiner Umgebung halten die Chefin sowieso für ein wenig sonderbar.«
»Die Chefin?«
»Seit dem Tod meines Mannes bin ich Hauptaktionärin der europaweit größten Firma für Spezialverpackungsmaschinen.« Sie lächelte verbittert und durchquerte den Raum. »Schauen Sie mal eine halbe Stunde lang einer Maschine zu, die Teebeutel verpackt. Dann fangen Sie von selbst an zu meditieren.«
Sie bewegte sich, als wolle sie, dass ich mir ihres Körpers unter dem fließenden goldbraunen Kleid ständig bewusst sei. »Und worüber?«
»Den menschlichen Geist?«
Ihr Lächeln weckte in mir die Erinnerung, dass ich sie schon einmal gesehen hatte, im Fernsehen, in einem ähnlichen Kleid, nur in Schwarz, neben einem imposanten Mann im Smoking, der eine Auszeichnung als Exportgröße oder für irgendeine andere herausragende unternehmerische Leistung entgegennahm. Damals hatte sie dasselbe faszinierende Lächeln gezeigt, das weniger Stolz auf ihren Ehemann auszudrücken schien als innerliches Amüsement über die gekünstelte Zeremonie. Sie erinnerte mich an Prinzessin Irene, der sie zwar nicht ähnelte, die aber genauso ein Gesicht machen konnte und wahrscheinlich genauso unglücklich gewesen war.
»Joachim Reider«, sagte ich.
Das Lächeln verschwand. »Mein Mann ist vor drei Jahren verunglückt.« Ihre Stimme und ihr energischer Wink auf die Sessel gegenüber des Porträts drückten aus, dass sie keine nachträglichen Beileidsbekundungen wünschte. »Hier geht es um meine Tochter.«
Sie drapierte das Kleid über ihre hübschen Knöchel und wir saßen nebeneinander und studierten das Foto wie zwei Kunstliebhaber in einem geräuschlosen Museum.
»Die Stille dient dazu, sie besser hören zu können«, erklärte sie nach einer Weile.
»Sie ähnelt Ihnen. Ich habe es für ein Jugendfoto von Ihnen gehalten.«
»Siroun war damals achtzehn. Sie ist jetzt fast einundzwanzig.«
»Siroun?« Sie wirkte nicht wie eine Frau, die sich von der Mode fremdländischer Vornamen leiten ließ, obwohl ihr eigener ebenfalls ungewöhnlich klang.
»Siroun ist Armenisch und bedeutet ›lieblich‹«, erklärte sie. »Sie wurde nach ihren beiden Großmüttern genannt, Rosa Siroun. Mein Mädchenname lautet Bodosian. Sie suchen doch auch nach vermissten Personen?«
»Ja, aber wenn sie schon einundzwanzig ist … Haben Sie sich gestritten?«
»Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals mit Siroun gestritten zu haben. Haben Sie Kinder?«
»Ja, einen Sohn in Neuseeland und eine ganz kleine Tochter.«
»Dann wissen Sie, was das bedeutet.«
Ich verstand sie nicht. »Mit meinem Sohn habe ich wenig Kontakt, außer dann und wann einen Brief. Ich habe ihn schon seit zehn Jahren nicht mehr gesehen.«
Sie war zu sehr mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigt, um sich für meine zu interessieren. »Ein
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