Rosarote Nachrichten: Roman (German Edition)
Familie. Ein behinderter Sohn, eine Mutter, die sich für Amelia Earhart hielt, und drei Töchter mit unterschiedlichen Problemen, die während ihrer Highschoolzeit aus verschiedenen Gründen berüchtigt gewesen waren. In ihrer Vergangenheit gab es vieles, für das Momma sich schämte und das geheim bleiben musste: Armut, die sie fast umgebracht hatte, und schlimme Depressionen, gegen die sie jahrelang gekämpft hatte und die sich endlich aufzulösen schienen. (Dank des einen oder anderen Medikaments. Ich hatte die Fläschchen gefunden.)
Zum ersten Mal wurden sie und ihre verschrobene Familie mit offenen Armen aufgenommen.
Nachdem wir nicht weniger als dreißig Gäste empfangen hatten, saßen wir spätabends zusammen auf der Schaukel, und Momma sagte: »Margaret Tribotti, der das Fahrradgeschäft gehört, hat mir gebackenen Lachs mit Zitronenbuttersoße gebracht.« Dann brach sie in Tränen aus. »Eduardo Chavez hat mir selbstgemachtes Eis mit Schokoladenstückchen gebracht. Joyce Gonzales, meine Freundin aus der zweiten Klasse, hat mir einen Kokosnusskuchen gebracht, gebacken nach dem Familienrezept ihrer Großmutter Consuelo!« Sie bedeckte das Gesicht mit einem Taschentuch.
Ich griff nach ihrer Hand. Zu meinem Erstaunen verschränkte sie ihre Finger mit meinen, und wir schaukelten im Mondlicht.
Kurz darauf sah ich, wie Momma von Dad auf die Lippen geküsst wurde.
Nach dem Kuss senkte sie den Kopf, und ich sah ein winziges Lächeln. Er drückte sie an sich.
Wir wurden weiterhin mit Gerichten versorgt.
Mommas Herz wurde immer weicher.
Eines Morgens ging ich auf dem Weg zur Bäckerei hinunter zum Fluss und setzte mich an meinen üblichen Platz. Der Windsurfer war da. Glitt dahin, fing den Wind ein. Dachte an nichts als das Wasser, das Segel, den Wind.
Ich wollte mit ihm tauschen.
Ganz ehrlich.
Momma, Janie, Cecilia und ich brachten Henry zur Chemotherapie ins Krankenhaus. Diese Entscheidung hatte zu einem verheerenden Familienstreit geführt. Ich kann ihn nur mit dem Ausbruch des Mount St. Helen vergleichen. Dessen Gipfel war spitz, bevor er explodierte, aber erst nachdem sich die gewaltige Aschewolke verzogen hatte, erkannte man, dass der Gipfel sauber gekappt worden war und ein Höllenfeuer den Berg versengt hatte.
Unsere Familie erreichte das Höllenfeuer-Stadium ziemlich schnell.
Cecilia und Momma waren für die Chemotherapie. »Sie könnte sein Leben retten«, sagte Cecilia entschlossen. »Er könnte einer der Glücklichen sein, ein Wunder …«
»Cecilia«, flehte Janie und rang die Hände, viermal in die eine, viermal in die andere Richtung. »Die Ärztin sagte, es würde kein Wunder geben …«
»Ärzte-Schnärzte!«, rief Momma. »Er macht es. Mein Sohn macht die Chemo.« Zur Bekräftigung schleuderte sie eine alte violette Kristallflasche zu Boden.
»Momma, Henry bleiben nur noch eine begrenzte Anzahl von Tagen«, sagte ich, betrübt über den schmerzhaften Ausdruck in ihrem Gesicht. »Die Chemotherapie wird ihn nicht gesund machen. Ich möchte nicht, dass die letzten Wochen seines Lebens von Arztterminen, Schläuchen in seinen Armen, Übelkeit und Müdigkeit bestimmt werden …«
»Es könnte den Krebs verlangsamen, Isabelle«, fuhr Cecilia mich an. »Das ist seine einzige Chance!«
»Du würdest ihn lieber tot sehen?«, kreischte Momma, steigerte sich mit Lichtgeschwindigkeit in die Irrationalität. »Ja? Willst du das?« Sie kam über die Glasscherben auf mich zu.
Kann man einen schlimmeren Streit mit der Familie haben? Chemotherapie für ein todkrankes Familienmitglied oder nicht.
»Ich will nicht, dass Henry stirbt, Momma, das weißt du ganz genau.« Ich ballte die Fäuste. Sie war schrecklich. Unkontrollierbar. Gemein. »Wie kannst du das zu mir sagen? Wie kannst du nur? Ich liebe Henry, das weißt du genau, oder bist du so blind geworden, weil du unbedingt deinen Willen durchsetzen musst, dass du das nicht mehr erkennen kannst?«
»Ich sehe nur, dass du deinen Bruder nicht behandeln lassen willst! Du gibst meinen Sohn auf!«
»Zum Teufel, Momma.« Ich hatte genug. Ihr Sohn lag im Sterben, aber ich hatte meine Grenze erreicht. Nein, ich hatte sie überschritten. »Ich lasse mir deine Grausamkeiten nicht mehr bieten. Es reicht. Ich weiß, dass du von Schmerz erfüllt bist, ich weiß, dass du um dich schlägst, wie du es dein ganzes Leben lang getan hast, wenn es nicht nach deinem Willen ging, aber ich lass mir diesen Scheiß nicht länger bieten, diese
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