Rosarote Nachrichten: Roman (German Edition)
Gemeinheiten …«
Mommas Gesicht erstarrte, als hätte ich sie mit dem Tischbein geschlagen. »Ich bin nicht gemein«, beharrte sie, aber ihre Stimme schwankte.
»Doch, das bist du.« Ich ballte die Fäuste. »Du sagst Dinge, Momma, die tun so weh, und man vergisst sie nicht, aber ich nehme das nicht mehr hin, ich halte nicht mehr brav den Mund. Ich liebe Henry und würde ihn niemals aufgeben, doch ich kenne die Realität, Momma, ich kenne sie, und ich weiß, dass Chemotherapie ihm nur wenig helfen wird, wenn überhaupt.« Mir war es zuwider, so ehrlich zu sein. Absolut zuwider. »Er wird wahrscheinlich alle Haare verlieren, ihm wird ständig übel sein, und er wird dadurch nicht einen Tag länger leben.«
Cecilia schlug sich frustriert beide Hände vors Gesicht. »Ah! Das weißt du doch gar nicht.«
»Wach auf, Cecilia. Du weißt es genauso gut wie ich.« Und wir wussten eine Menge. Wir hatten im Internet recherchiert. So was macht die Ärzte verrückt. Die Leute surfen wie die Wilden durchs Internet, sind plötzlich Experten für ihre Krankheit und glauben, sie wüssten mehr als die Spezialisten, aber ein Bauchspeicheldrüsenkrebs, der bereits Metastasen gebildet hat, bietet nicht viel Spielraum für Überleben oder Behandlung, egal wohin man surft.
»Momma«, sagte Janie mit erstaunlich schneidender Stimme. »Du hast die Ärztin gehört. Nimm dir die Zeit und denk darüber nach, was du von ihm verlangst, wie sehr er leiden könnte! Willst du wirklich, dass Henry das durchmachen muss?«
Ich wandte mich mit angehaltenem Atem zu Janie um. Sie wagte es nur selten, Momma Paroli zu bieten. Meistens reagierte sie, indem sie sich klein machte, Mommas Seitenhiebe einsteckte und versuchte, Frieden zu stiften.
»Nein!«, brüllte Momma, ihr Gesicht eine trostlose Maske unerbittlichen Verlusts. »Nein, verdammt nochmal, das will ich nicht! Aber ich will auch nicht, dass mein Sohn Krebs hat! Ich will nicht, dass mein Sohn krank ist! Ich will nicht, dass mein Sohn stirbt, Himmel nochmal! Versteht ihr das denn nicht? Nein? Wir sollten kämpfen. Wir sollten diesen Krebs bekämpfen!« Sie schleuderte eine kleine rote Glasflasche auf den Boden. »Wir müssen kämpfen!«
»Nein, wir müssen nicht kämpfen«, warf ich ein. »Wir müssen entscheiden, welches der beste Weg für Henry ist. Nicht für uns. Er verdient es, so lange wie möglich ein Leben zu führen, das lebenswert ist, ohne Infusionen und Nebenwirkungen.«
Momma zitterte am ganzen Körper. »Bin ich die Einzige, die an Henry glaubt?«
O mein Gott. War sie die Einzige, die an Henry glaubte?
»Das ist nicht fair, Momma!«, rief Janie mit hochrotem Kopf. »Wir haben unser ganzes Leben lang an ihn geglaubt! Wag ja nicht, das Gegenteil zu behaupten!«
Wow, Janie!
»Wir haben ihm die Windeln gewechselt, als er vier war, und daran geglaubt, dass wir es eines Tages nicht mehr tun müssten, weil Henry beschließen würde, nicht mehr in die Hose zu scheißen!« Sie ballte die Fäuste und schoss auf Momma zu, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Glasscherben knirschten unter ihren Schuhen. »Wir haben geglaubt, dass er sich davon erholen würde, ständig von Rabauken angegriffen zu werden, weil wir ihn trösteten. Wir haben ihm Lesen beigebracht, als seine Lehrer behaupteten, er könne es nicht. Wir brachten ihn wegen all seiner Gesundheitsprobleme zum Arzt und glaubten daran, dass es ihm bessergehen würde, weil wir für ihn sorgten. Wir glaubten, dass er wieder sprechen würde, nachdem Dad uns verließ und Henry vergewaltigt worden war, und er tat es, weil wir ihm halfen. Obwohl du die Hälfte unserer Kindheit im Bett verbracht hast oder gemein zu uns dreien warst, glaubten wir, dass Henry trotzdem zu einem tollen Mann werden würde, weil wir immer für ihn da waren! Wag es nicht, uns vorzuwerfen, nicht an Henry zu glauben! Wag es ja nicht, Momma!«
Die Stille im Raum war ohrenbetäubend. Janie keuchte, und Cecilia war ausnahmsweise einmal sprachlos.
»Jetzt ist nicht die Zeit, gehässig zu sein, Momma«, sagte ich mit vorgerecktem Kinn. »Greif uns ausnahmsweise mal nicht an, nur weil es dir schlechtgeht. Uns geht es allen schlecht.«
Momma legte die Hände auf ihr blondes, glockenförmiges Haar. »Er kann es schaffen, er kann es überleben«, stieß sie hervor und sackte gegen die Wand. »Meinem Henry wird es bessergehen …« Schluchzend rutschte sie an der Wand hinunter. »Mein Henry wird zu den Ärzten gehen, und die
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