Rosarote Nachrichten: Roman (German Edition)
Bücher, Zwänge und Obsessionen und konnte zwar ein wenig helfen, würde aber vermutlich irgendwann auf ihr Hausboot zurückkehren und die Tür hinter sich schließen.
Somit blieb nur ich übrig.
Ich warf den nächsten Stein ins Wasser. Die Sonne hatte den Fluss erreicht und goss ihr Gold auf die Wellen.
Ich wollte diese Aufgabe nicht. Allein die Vorstellung, wieder zusammen mit Momma oder in ihrer Nähe zu leben, ließ Wut und Schmerz wie einen Tsunami auf mich einstürzen. Ich konnte nicht zwei Menschen pflegen und gleichzeitig die Zielscheibe einer dritten Person sein. Ich konnte auch nicht wieder in dieser Kleinstadt leben, vor allem nicht mit meinem tollen Ruf als Flittchen.
Ich konnte es nicht.
Ich kann es nicht.
Nein.
Aber diese bohrende Frage wollte mir nicht aus dem Kopf: Wenn du es nicht tust, wer dann?
Als ich einige Abende später einen Kuchen in Storchenform für eine Babyparty, drei Brombeertorten, eine Hochzeitstorte mit einem Wasserfall aus blauem Tortenguss (das Paar hatte sich in einem lokalen State Park unter einem Wasserfall kennengelernt) gebacken und einen Berg Karamellbonbons sowie zahlloses anderes Zuckerwerk produziert hatte, fuhr ich nach Hause.
Als ich um die Ecke bog, sah ich wieder denselben Mann mit dem weißen Haar gegenüber der Bäckerei unter dem Spalier unseres örtlichen Parks stehen. Ich hielt an und beobachtete, wie er unsere Bäckerei betrachtete, sich schließlich abwandte und ging.
15. Kapitel
Spät am nächsten Abend trat ich hinaus aufs kühle Gras unter der Weide und fand den Großen und Kleinen Wagen sowie den Polarstern.
Die ständigen Krankenhausbesuche bei Momma und Grandma hatten mich aufgewühlt. Es war der Geruch, der die Erinnerungen auslöste. Dieser antiseptische, seifige, sterile Krankenhausgeruch.
Ich hatte versucht, diese beklemmenden Erinnerungen loszuwerden, sie in einen Kasten zu sperren und ihn zuzunageln, doch das hatte nicht funktioniert, was keine Überraschung war. Ich habe gelernt, dass man beklemmenden Erinnerungen manchmal ihren Lauf lassen muss, wenn auch nur, damit sie ins Dunkel zurückkehrten und man mit seinem fröhlichen Leben weitermachen konnte. Ich machte mich auf etwas gefasst, und die Erinnerungen wanden sich ans Licht wie Seeschlangen.
An jenem Nachmittag war überall Blut gewesen. Blut, das die Matratze durchtränkte, auf den Boden tropfte, aus Momma herausquoll und uns besudelte, heiß und klebrig.
Zuerst blieb ich stumm, als ich ihn sah, diesen heißen, klebrigen roten Strom. Ich bekam kein Wort heraus. Der Schock brachte meine Nervenenden zum Kreischen und schaltete mein Gehirn ab.
Doch obwohl ich stumm blieb, spürte mich Cecilia im anderen Zimmer, fühlte mein Entsetzen, mein erstarrtes Grausen. Sie schrie. Ihr Schrei explodierte in mir, als wäre sie in meinem Körper, verzweifelt, voller Todesangst.
Ich fiel in ihren Schrei ein, ein Zimmer weiter, ein ineinander verwobener, wehklagender Schmerzensschrei.
Das war sechs Wochen, nachdem Momma nach dem Läusebefall im Wohnwagen draußen im Wald aus dem Krankenhaus entlassen worden war.
Im Modegeschäft lief alles prima. Niemand hätte je vermutet, dass sich hinter dem perfekt geschminkten Gesicht und der glockenförmigen Frisur eine Frau versteckte, die in ein so tiefes schwarzes Loch fallen konnte, dass sie kaum wieder herausfand.
Sie weigerte sich, die von der Schule mitgebrachten Formulare zu unterschreiben, mit denen sie kostenloses Frühstück und Mittagessen für uns beantragen konnte, und behauptete, sie könne jetzt selbst für uns sorgen. Sie warf die Formulare in den Müll. »Die glauben, wir wären arm, was? Sind wir aber nicht. Wir sind kein weißer Abschaum. Wir brauchen keine staatliche Unterstützung.«
Janie fälschte Mommas Unterschrift.
An jenem schicksalhaften Tag hatten Janie, Cecilia und ich Henry aus seinem Sonderschulzimmer abgeholt. Niemand hatte Cecilia geärgert, weil sie zu dick war, Janie als verschroben bezeichnet oder mich als supergescheite Eigenbrötlerin verspottet, niemand hatte Henry ausgelacht, und zum Mittagessen hatte es Pizza gegeben. Die Bommarito-Kinder waren also recht glücklich.
Wir waren zu einer anderen Schule marschiert, etwa eine Meile entfernt, in der, wie unser Rektor uns erzählt hatte, kostenlos Kleider ausgegeben wurden. »Lasst euch von deiner Mutter hinfahren, Isabelle«, hatte er mir zugeflüstert und mir vier Eintrittskarten gegeben. Tja, dass Momma – »Wir brauchen keine staatliche
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