Rose Harbor und der Traum von Glueck
oder neugierigen Gesichter zu sehen. Ständig meinte sie sie tuscheln zu hören. Da ist die, die schuld ist.
Natürlich: Sie saß am Steuer, und Angela war tot.
Fünf Jahre, nachdem sie die Highschool verlassen hatte, fand das erste Jahrgangstreffen statt. Ohne sie. Es wurde Geld gesammelt und zum Gedenken an Angela ein kleines Denkmal im Stadtpark aufgestellt. Als sie davon erfuhr, schienen sich die Erinnerungen erneut wie ein Lasso um sie zu wickeln und ihr langsam die Luft zum Atmen abzuschnüren. Zum Glück musste sie nicht mehr zu Besuch nach Cedar Cove kommen, weil die Eltern inzwischen weggezogen waren.
Tief in Gedanken versunken, setzte sie ihren Mietwagen gerade aus der Einfahrt heraus, als ihr Handy läutete. Der Klingelton hallte in dem Auto wider, als würde direkt neben ihr eine Kirchturmglocke läuten. Sie griff nach dem Telefon und schaute nach der Nummer.
Ihre Mutter.
Sie zögerte, dann leitete sie den Anruf auf die Mailbox um. Wenn sie jetzt mit ihrer Mutter sprach, brach sie womöglich zusammen und gestand ihr, dass sie sich gerade auf den Weg zum Friedhof machte. Linda würde es ihr bestimmt auszureden versuchen. Heute war Rogers Hochzeitstag, und da sollte Abby nicht ausgerechnet an die Wunden der Vergangenheit rühren.
Und damit hätte sie nicht einmal unrecht.
Trotzdem. Abby hielt sich bereits seit zwei vollen Tagen in der Stadt auf und hatte den Besuch an Angelas Grab schon zu lange aufgeschoben. Sie hätte Freitag oder gleich Donnerstag hingehen sollen, bloß war sie zu feige gewesen. Wenn sie es nicht bald tat, würde sie sich nie überwinden.
Wieder piepste ihr Handy; zeigte an, dass ihre Mutter eine Nachricht hinterlassen hatte. Abby würde sie später abhören.
Sie sah auf die Uhr. Halb zehn.
Es blieb noch reichlich Zeit.
Nein, sie hatte überhaupt keine Zeit mehr.
In ihrer Kehle bildete sich ein Kloß. Abby fragte sich, was sie erwartete, was sie sich erhoffte. Eine Absolution? Selbst jetzt, nach all diesen Jahren, wusste sie nicht, warum Gott ihr gestattet hatte weiterzuleben, während Angela sterben musste. Und angesichts der erdrückenden Last, die sie seit dem Unfall mit sich herumtrug, wäre sie lieber diejenige, die in der feuchten Erde ruhte.
Frei von Vorwürfen und von Schuld.
Abby wählte die lange Route und fuhr an der Highschool vorbei. Sie schluckte, als sie zu dem Fenster ihres ehemaligen Klassenzimmers aufblickte. Damals waren sie so unbekümmert und zuversichtlich gewesen, hatten darauf gebrannt, die Welt zu erobern, und geglaubt, alle Träume würden sich erfüllen. Sie fanden sich cool und überlegen. Unangreifbar. Unverwundbar. In Wirklichkeit waren sie naiv und zugleich unschuldig gewesen.
Zumindest für Abby kam das böse Erwachen sehr schnell.
Als sie den Friedhof erreichte, fiel ihr mit einem Mal ein, dass sie gar nicht wusste, wo sich Angelas Grab befand. Ziellos lief sie herum, und es dauerte fast vierzig Minuten, bis sie es durch Zufall entdeckte. Das Gesicht fast taub vor Kälte, stand sie schließlich vor dem Grabstein aus Granit.
ANGELA MARIE WHITE .
Sogar jetzt noch erschien es ihr wie ein böser Traum. Unter den Geburts- und Todesdaten las sie die Worte geliebte Tochter. Wenn sie doch nur beste Freundin hätte hinzufügen dürfen!
Unschlüssig, was sie in dieser Situation tun sollte, starrte Abby unverwandt auf den Grabstein. Eine einzelne Träne rollte von ihrer Nasenspitze und fiel auf den Granit. Neben dem Stein stand eine Vase mit künstlichen Blumen.
Gelbe Margeriten, Angelas Lieblingsblumen. Ihr Brautstrauß würde dereinst aus Margeriten bestehen, hatte sie immer gesagt. Obwohl das damals in weiter Ferne lag, machte es ihnen Spaß, sich auszumalen, wie sie ihre Hochzeiten feiern und wie ihre Brautkleider aussehen würden. Sogar Skizzen hatten sie angefertigt. Und sie hatten sich geschworen, dass nichts jemals zwischen ihnen stehen sollte. Keine Jungen, keine anderen Freundinnen, nicht einmal ihre Eltern und ihre künftigen Ehemänner.
Sie waren vor allem beste Freundinnen.
Sie fühlte sich entsetzlich elend und schluchzte leise. » Hallo « , flüsterte sie.
Lange genug hast du ja gebraucht.
Abby fuhr herum, um zu sehen, ob jemand hinter ihr stand. Aber niemand außer ihr war da.
Verwirrt und alarmiert drehte sie sich wieder zu dem Grabstein um.
Ja, ich bin es. Glaubst du, das Grab würde mich zum Schweigen bringen? Komm schon, Abs, du solltest mich besser kennen.
» Angela « , keuchte Abby.
Keine Angst, niemand sonst kann
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