Rosehill 01 - Die Tochter des Lords
meine Verwandten mich nicht mögen? Wenn ich meinen Vater enttäusche? Ich weiß nicht, wie sich eine englische Lady benimmt. Angeblich heiße ich Victoria. Aber ich bin nicht Victoria, sondern Mary Rose.
Und was soll aus meiner Ehe werden, wenn ich Harrison nicht mehr vertrauen kann? O Corrie, wie gern würde ich hier bleiben!« Mary Rose trocknete ihre Tränen, dann griff Corrie nach ihrer Hand.
Diese tröstliche Geste rief eine neue Tränenflut hervor. Schuldbewusst dachte Mary Rose an das Grauen, das ihre Freundin erlitten hatte. Im Vergleich dazu waren ihre eigenen Probleme albern und belanglos. Immerhin hatte die arme Frau ihren Ehemann und ihren Sohn sterben sehen.
»O Corrie, Sie machen mir Mut!«, wisperte Mary Rose. Das war keine hohle Phrase, denn je länger sie über den Verlust ihrer Freundin nachdachte, desto leichter fiel es ihr, das eigene Leben in die richtige Perspektive zu rücken. Sie wusste, dass sie ihre Pflicht erfüllen musste, und was immer ihr die Zukunft bringen mochte – sie würde es ertragen. »Ich bin sehr glücklich, weil Sie meine Freundin sind, Corrie.«
In diesem Augenblick stieß Travis einen schrillen Pfiff aus, um seiner Schwester zu bedeuten, nun müsse sie mit ihm nach Hause reiten.
»Morgen fahren Eleanor und ich nach Hammond zu den Cohens«, erklärte sie ihrer Freundin. »Sie reisen nach Boston zu einer Familienfeier, und wir begleiten sie. Dann wird Mr Cohen uns an Bord des Schiffes bringen, auf dem wir den Atlantik überqueren. Und wenn alles gut geht, bin ich schon wieder daheim, bevor der erste Schnee fällt. Während meiner Abwesenheit wird Travis Ihnen alles bringen, was Sie brauchen. Ich habe Ihnen doch von meinem Bruder erzählt, nicht wahr? Erinnern Sie sich? Er wird immer nur zur Mitte dieser Lichtung gehen«, fügte Mary Rose hastig hinzu, als Corrie ihre Hand drückte. »Darf ich ihn jetzt rufen? Er wird dort hinten bei den Bäumen stehen bleiben, und Sie können ihn anschauen – damit Sie ihn später wieder erkennen und nicht erschrecken, wenn er herkommt. Und er hat versprochen, er wird Sie immer rufen, bevor er die Lichtung betritt.«
Da lockerte Corrie ihren Griff, der Mary Roses Finger umschloss.
»Travis!«, rief Mary Rose. Ihr Bruder erschien am anderen Ende der Lichtung und winkte ihr zu. Der Fenstervorhang verbarg Corrie vor seinem Blick, aber er merkte, dass seine Schwester die Hand der Frau hielt.
»Ein Gewitter braut sich zusammen, Mary Rose!«, rief er. »Jetzt müssen wir zurückreiten. Guten Tag, Corrie!«, grüßte er, bevor er zwischen den Bäumen verschwand. Widerstrebend stand Mary Rose auf und küsste die Hand ihrer Freundin. »Ich werde Sie sehr vermissen, Corrie. Bis wir uns wiedersehen, werden der liebe Gott und Travis auf Sie achten. Vertrauen Sie allen beiden.«
Das Buch unter dem Arm ging sie langsam davon. Der Wind frischte auf, und sein Geheul mischte sich mit dem Ruf eines ungeduldigen Kardinalvogels. Beinahe übertönte der Sturm das leise Schluchzen der Frau, die in ihrer Hütte weinte.
2. Januar 1870
Liebe Mama Rose, beute bin ich zehn Jahre alt. Erinnerst du dich, wie Adam dir schrieb, er habe in meinem Korb Papiere gefunden. Darauf stand, am z. Januar sei ein Baby geboren worden. Und weil ich das einzige Baby in diesem Korb war, glaubten meine Brüder, dass müsste ich sein.
Ich bin sehr glücklich, weil ich eine so nette Familie habe. Travis backt eine Geburtstagstorte fürs Abendessen, und alle meine Brüder haben Geschenke für mich gemacht. Adam sagt, nächstes Jahr würden sie mir auch was im Laden kaufen. Wird das nicht wundervoll?
Was glaubst du, warum meine Mama und mein Papa mich weggeworfen haben? Ich frage mich, ob es meine Schuld war.
Deine Tochter Mary Rose
17
An einem Dienstagnachmittag traf Harrison in London ein. Doch er musste bis zum nächsten Abend warten, ehe er mit seinem Arbeitgeber sprechen konnte. Lord Elliott hielt sich auf seinem Landsitz auf, zwei Fahrstunden von der Stadt entfernt, und würde erst am Mittwochmorgen die Rückreise antreten.
Harrison schickte ihm einen Boten mit einem kurzen Brief, informierte ihn über seine Heimkehr und bat um ein Gespräch unter vier Augen. Es handle sich um eine sehr persönliche und zudem juristische Angelegenheit. Das betonte er, um zu verhindern, dass Elliott seinen Privatsekretär George MacPherson hinzuzog.
Am Mittwochabend öffnete ihm Murphy – der Butler Seiner Lordschaft, seit Harrison denken konnte – die Haustür. Als der treue
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