Rosehill 01 - Die Tochter des Lords
bis Sie eine Entscheidung treffen?«
Selbstverständlich wusste Harrison, wie unklug es gewesen wäre, von seinem Geld zu erzählen. »Nein, nur für ein paar Tage.«
»Sie können ja auf einer Ranch arbeiten«, riet Dooley. »Kräftig genug sind Sie.«
»Genau das habe ich mir auch schon gedacht«, log Harrison.
»Und was hat Sie nach Blue Belle geführt?«, erkundigte sich Billie. »Ich weiß, das geht mich nichts an, aber ich bin nun mal neugierig, Mister.«
»Nennen Sie mich doch Harrison. Wenn Sie’s wirklich wissen wollen, ich habe mich auf ein sinnloses Unternehmen eingelassen. Zumindest glaubt das der Mann, für den ich arbeite.«
»Dann haben Sie schon einen Job?«, fragte Dooley.
»Jetzt bin ich gerade im Urlaub.«
»Darf ich Ihnen mal eine Frage steilen, die mit dem Gesetz zusammenhängt«, bat Ghost.
»Was interessiert Sie denn?«
»Ich überlege mir, ob ich ein Pferd stehlen soll«, erklärte Ghost, stand auf und kam zum Tisch herüber. »Also, dieser Kerl, an den ich denke, hat mir vor Jahren die Frau weggenommen. Und deshalb würde ich nichts Falsches tun. Das Gesetz steht doch auf meiner Seite?«
Nur mühsam unterdrückte Harrison ein Lächeln. Ghost sollte nicht glauben, der Fremde würde sich über ihn lustig machen. »Leider muss ich Sie enttäuschen. Der Stolz wäre auf Ihrer Seite – das Gesetz nicht.«
»Das habe ich ihm schon gesagt«, verkündete Dooley grinsend. »Wenn er Lloyd ein Pferd stiehlt, wird ihn die Bürgerwehr aufhängen.«
Diese Antwort missfiel Ghost. Während er zu seinem Platz zurückkehrte, murmelte er etwas Unverständliches vor sich hin. Nun wandten sich auch die anderen mit diversen Problemen an Harrison, und in der nächsten Stunde erteilte er kostenlose juristische Ratschläge. Er hatte in Oxford studiert und seine Lehrzeit in England absolviert, aber auch für einen Fabrikbesitzer gearbeitet, der seine Erzeugnisse zur amerikanischen Ostküste verschiffte. Deshalb kannte der junge Anwalt das Rechtswesen der Vereinigten Staaten, denn er hatte sich über die Import- und Exportvorschriften informieren müssen.
Die Unterschiede zwischen der englischen und der amerikanischen Rechtsprechung faszinierten ihn. Begierig verschlang er alle Berichte über ungewöhnliche Fälle, die ihm in die Hände fielen.
Seine Leidenschaft für die Gesetze und sein Mitleid mit Menschen, die in Not geraten waren, hatte ihn in vielen Kreisen unbeliebt gemacht. Weil er für den mächtigen Lord Elliott arbeitete, missachtete man ihn nicht, warf ihm aber die unpopulären Probleme vor, für die er seine Zeit opferte.
Bald erwarb er sich einen fragwürdigen Ruf als Fürsprecher der Armen in den Londoner Slums. Das kostete ihn seine Verlobung mit Lady Edwina Homer, die ihm brieflich mitteilte, sie könne keinen Mann heiraten, der ständig Skandale heraufbeschwöre. Seine Freunde warnten ihn und versuchten ihn von seiner lächerlichen Meinung abzubringen, die Armen in England müssten genauso viele Rechte erhalten wie die Reichen. Aber Harrison hatte entschieden erwidert, niemals würde er ihren elitären, egoistischen Standpunkt vertreten.
»Vielleicht sind die Gesetze in England anders als hier«, meinte Ghost, ging wieder zu Harrison und schaute ihn hoffnungsvoll an. »Sollte ich das Pferd stehlen, wird man mich womöglich gar nicht aufhängen, weil Lloyd mit dem ganzen Ärger angefangen hat.«
Bedauernd schüttelte Harrison den Kopf. »Ich kenne die amerikanischen Gesetze, und ich weiß, man würde Sie für schuldig befinden.«
Plötzlich flog die Schwingtür des Saloons auf. »Da kommt Miss Mary, und Cole reitet hinter ihr.« Sofort rannte der Mann, der diese Neuigkeit verkündet hatte, wieder davon.
Billies Gäste eilten aufgeregt hinaus, und Dooley wurde beinahe umgestoßen. Als er sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte, wandte er sich zu Harrison. »Kommen Sie nicht mit? Sie sollten wenigstens einen kurzen Blick auf Miss Mary werfen. Das lohnt sich.«
Weil Dooley es merkwürdig finden könnte, wenn Harrison kein Interesse zeigen würde, stand er auf und folgte den anderen zur Straße hinaus. Vielleicht würde seine Suche in wenigen Minuten ein Ende finden.
Widersprüchliche Gefühle erfüllten ihn. Er hatte Lord Elliott versprochen, dieses Abenteuer würde sein letzter Versuch sein, das Rätsel zu lösen. Müde seufzte er auf. Elliotts Argumente waren unwiderlegbar. Auf keinen Fall konnte Mary Rose Clayborne seine Tochter sein. Victoria war ein Einzelkind, und Mary Rose
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