Rosehill 01 - Die Tochter des Lords
sie musste es von MacPherson bekommen haben. »Wie, zum Teufel, hat er es entwendet?«, murmelte Harrison vor sich hin.
Mary Rose kannte den Sekretär ihres Vaters noch immer nicht. Kurz vor ihrer Ankunft in England hatte er seinen Jahresurlaub genommen, den er im Ausland verbrachte, und später telegraphisch um eine Verlängerung seiner Ferien gebeten. Sie erklärte Harrison, wahrscheinlich würde sie dem Mann nie begegnen, da sie vor dem ersten Schnee nach Montana fahren wollte. Und MacPherson würde wohl kaum in absehbarer Zeit von seiner Ferienreise zurückkehren. Ihr Mann widersprach nicht, stimmte ihr aber auch nicht zu.
Inzwischen hatte sie ihren Brüdern mindestens ein dutzendmal geschrieben und noch nichts von ihnen gehört. Sie behelligte ihren Mann nicht mit der Sorge, irgendetwas könnte passiert sein, und die Claybornes wollten ihr schlechte Neuigkeiten ersparen. Stillschweigend vergrub sie sich in ihrem Kummer.
Auch Mama Rose meldete sich nicht, obwohl Cole ihr Mary Roses neue Adresse geschickt hatte. War ihr etwas zugestoßen? Großer Gott, was sollte sie tun, wenn ihre Mama sie brauchte, und wenn sie ihr nicht zu Hilfe eilen konnte?
Natürlich zerrte die Angst um ihre Familie an Mary Roses Nerven, und ihre Beziehung zu Tante Lillian verschlechterte sich zusehends. Hingegen wurde Eleanor der erklärte Liebling Lillians, die unentwegt die beiden jungen Damen miteinander verglich. Dankbar nahm Eleanor alle Instruktionen entgegen – Mary Rose nicht. Eleanor wusste die Wohltaten der Elliotts zu würdigen, begeisterte sich für ihre neue Garderobe und erkannte, wie wichtig es war, stets gut auszusehen. Wenn sich Victoria doch ein Beispiel an ihrer Freundin nähme, dachte Lillian. Niemals sah man einen Fleck auf den Kleidern der jungen Dame, auch an der Frisur gab es nichts auszusetzen. Kein einziges Mal rannte sie in würdeloser Haltung durch die Halle. Wenn die gesellschaftlichen Veranstaltungen begannen, würde Eleanor gut gerüstet sein. Und Lord Elliotts Tochter? Wenn sie nun die ganze Familie in Verlegenheit brachte?
Mary Rose begriff nicht, warum sich die Tante wegen dieser belanglosen Dinge den Kopf zerbrach. Die ganze Etikette erschien ihr unsinnig. Offenbar brachten die Frauen den Großteil ihrer Tage damit zu, sich umzuziehen. Morgens ein Reitkleid, dann ein Tageskleid, danach ein Teekleid und schließlich eine elegante Dinnerrobe. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie würde nichts anderes tun, als ständig die Stufen hinauf- und hinunterzulaufen.
An politischen Diskussionen durften sich die Frauen nicht beteiligen. Es war undamenhaft, Intelligenz zu zeigen. Sie wollte Harrison doch keine Schande machen, indem sie auf Gleichberechtigung pochte? Mary Rose musste lernen, nur über das Haus und die Familie zu reden, der Welt ein freundliches Lächeln präsentieren, und wenn sie schon jemanden kritisieren musste, dann nur die Dienstboten, die wirklich genug Fehler begingen.
Obwohl Mary Rose all diese Regeln abscheulich fand, versuchte sie sich danach zu richten, um ihre Tanten und den Vater nicht zu enttäuschen. Im August und September wurde sie auf ihren großen Auftritt in der Gesellschaft vorbereitet. Sie musste lernen, welche Adelstitel die verschiedenen Gentlemen und Ladys trugen, wer sich wofür interessierte, wem man besser aus dem Weg ging, wem man besonders freundlich begegnen sollte, und so weiter. Manchmal glaubte sie, ihr Gehirn müsste zerspringen – voll gestopft mit lauter unwichtigen Einzelheiten, die sie nicht vergessen durfte.
Während dieser Unterrichtsstunden saß sie mit ihren Tanten im Wintergarten und lernte nähen.
Lord Elliott überhäufte seinen jungen Anwalt immer noch mit Arbeit, schickte ihn vom einen Ende Englands zum anderen. Wann immer Harrison seine Frau sah, schnitt sie unweigerlich das Thema ihrer Heimreise an. Doch er bat sie, noch ein wenig zu warten, bevor sie eine Entscheidung traf. Beinahe glaubte sie, er wäre mit der Art und Weise einverstanden, wie sie von ihrer englischen Familie behandelt wurde.
Ein letztes Mal rebellierte sie vor ihrem ersten großen Ball. Lillian durchwühlte im Schlafzimmer ihrer Nichte deren Garderobe, und dabei wurde sie von Mary Rose ertappt.
»Was machst du hier, Tante Lillian?«
»Ann Marie erzählte mir, du würdest immer noch diese Krinolinen tragen, Victoria. Die sind jetzt aus der Mode. Erinnerst du dich nicht? Nun trägt man engere Röcke. Möchtest du diesen alten Plunder nicht wegwerfen?«
Entsetzt hielt Mary
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