Rosehill 01 - Die Tochter des Lords
hätte sich viel lieber nach der politischen Arbeit ihres Vaters erkundigt, aber das wäre wohl zu freimütig gewesen. Aus Angst vor einer neuerlichen Zurechtweisung ihrer Tante schwieg sie. Gelangweilt hörte sie zu, während Lillian wortreich beklagte, dass die langen Schleppen aus der Mode gekommen seien. Die fashionablen kurzen Jäckchen würden die Hüften viel zu sehr betonen. Das mochte jungen, schlanken Frauen stehen, aber keinesfalls würdevollen, älteren Ladys.
Barbara und ihr Mann Robert gesellten sich hinzu, um an der Diskussion teilzunehmen. Erst in einer Stunde sollte das Essen serviert werden. So lange musste Mary Rose dieses belanglose Geschwätz noch ertragen. Fanden die Männer das nicht furchtbar öde? Sie schaute Harrison an, der vor sich hinstarrte und offenbar an ganz andere Dinge dachte. Da beschloss sie, seinem Beispiel zu folgen, doch das war ein Fehler, denn ihre Gedanken kehrten sofort zu ihrer Familie nach Montana zurück. Sie malte sich aus, was ihre Brüder wohl gerade machten, und schmerzliches Heimweh erfüllte ihr Herz.
»Kannst du’s, Victoria?«, fragte Eleanor.
Die schrille Stimme riss Mary Rose abrupt in die Wirklichkeit zurück. »Was denn?«
»Tennis. Hast du denn nicht zugehört?«
Nein, sie hatte nicht zugehört. »Ich kann nicht Tennis spielen.«
»Dann musst du’s lernen, meine Liebe«, entschied Onkel Robert. »Das ist jetzt der letzte Schrei.«
»Mary Rose kann zwar nicht Tennis spielen, aber Klavier«, verkündete Harrison voller Stolz.
»O nein!«, protestierte sie unglücklich, und er neigte sich erstaunt zu ihr.
»Kannst du’s denn nicht?«
»Hier in England nicht.« Ihr flehender Blick veranlasste ihn, das Thema nicht weiterzuverfolgen.
Inständig hoffte sie, er würde später nicht fragen, was in ihr vorgegangen sei. Sie wusste nicht, ob sie ihre Gefühle erklären konnte. Auf Rosehill hatte sie oft mit Adam am Klavier gesessen und vierhändig gespielt. Da gab es viel Gelächter, wenn ein falscher Ton angeschlagen wurde. Oder Mary Rose hatte das Tempo beschleunigt, um das Stück noch vor Adam zu beenden. Auf keinen Fall wollte sie ihren englischen Verwandten etwas vorspielen. Womöglich würde man sich über ihre Technik mokieren, und dann hätte sie das Gefühl, der Spott wäre auch gegen ihren Bruder gerichtet.
In einer knappen Woche hatte sich ihr Verhalten drastisch geändert. Bei ihrer Ankunft hatte sie den Wunsch verspürt, ihrem Vater alles von den Brüdern zu erzählen. Nun wollte sie nichts mehr über ihre Familie in Montana verraten. Es genügte vollauf, wenn sie selbst unentwegt mit grausamen Kommentaren konfrontiert wurde. Und sie könnte es nicht ertragen, wenn man die Männer, die sie so innig liebte, ebenfalls kritisierte und schlecht machte.
Plötzlich wäre sie am liebsten in ihr Zimmer hinaufgelaufen, um ihnen einen langen Brief zu schreiben. Aber damit musste sie sich bis nach dem Dinner gedulden. Nun verlief ihr Alltag ganz anders als in Montana. Dort war sie im Morgengrauen aufgestanden und um neun oder zehn Uhr abends ins Bett gegangen. Und hier aß man erst zur Schlafenszeit. Auch an diesem Abend ertönte der Dinnergong nicht vor halb neun. Bei Tisch schlief sie fast ein, und Lillians spitzer Ellbogen stieß sie mehrmals zwischen die Rippen.
Nach der Mahlzeit blieben die Gentlemen im Speisezimmer, um Portwein zu trinken. Inzwischen sollte den Damen im Salon Tee serviert werden. Mary Rose war so schläfrig, dass sie nicht mehr wusste, was sie tat. Automatisch stand sie auf und ergriff ihren Teller, um ihn in die Küche zu tragen.
Als sie Lillian entsetzt nach Luft schnappen hörte, kam sie zur Besinnung und stellte den Teller hastig wieder hin.
Dunkle Röte stieg ihr in die Wangen, und Eleanor tätschelte beruhigend ihren Arm. »Sei nicht verlegen!«, wisperte sie und zog sie zur Tür. »Im Großen und Ganzen machst du’s recht gut. Lächle, Mary Rose – ich meine, Victoria! Alle schauen dich an.« Mit sanfter Gewalt zog sie ihre Freundin in den Salon hinüber. »Ist deine Tante Lillian nicht wundervoll? Sie meint es nur gut mit dir, Victoria, das musst du doch wissen.«
»Warum findest du sie denn so wundervoll?«
»Oh, deine liebe Tante hat entschieden, dass ich auch eine neue Garderobe bekommen muss. In meinen alten Fetzen kann ich dich nicht zu gesellschaftlichen Ereignissen begleiten. Morgen kommt die Schneiderin.«
Ehe Mary Rose den Speiseraum verließ, warf sie ihrem Mann einen letzten Blick zu. Aufmunternd
Weitere Kostenlose Bücher