Rosehill 01 - Die Tochter des Lords
sie fand es ziemlich anstrengend, die Neugier der Leute zu befriedigen. Als sie mit einem Baron tanzte, fragte er, ob sie diese wilden Indianer gesehen habe, über die man in manchen Büchern grausige Geschichten lesen könne. Ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu, da sie in St. Louis bei einer gottesfürchtigen Familie aufgewachsen sei, habe sie wohl keine Erfahrungen mit Indianern gesammelt.
Mary Rose belehrte ihn keines Besseren, und nach dem Tanz ging sie auf die Suche nach ihrem Mann. Schließlich entdeckte sie ihn vor der Glastür, die zum Balkon hinausführte, in ein Gespräch mit einem Fremden vertieft. Harrison schien sich zu ärgern, denn er presste die Lippen zusammen, und in seinen Augen lag ein kalter Glanz. Ehe sie seine Aufmerksamkeit beanspruchen konnte, trat ihr Lillian in den Weg. »Komm mit, soeben sind dein Onkel Daniel und Tante Johanna eingetroffen. Du musst sie unbedingt kennen lernen, mein Liebes.«
»Ja natürlich. Tante Lillian, hast du dem Baron erzählt, ich sei in St. Louis aufgewachsen?«
Ehe Lillian zu sprechen begann, nahm sie den Arm ihrer Nichte und führte sie an mehreren Tanzpaaren vorbei. »Das war nur eine kleine Notlüge«, erklärte sie in einer abgeschiedenen Ecke, fern von etwaigen Lauschern.
»Verstehst du, dadurch fällt es den Leuten leichter, dich zu akzeptieren. St. Louis ist nicht so primitiv wie der Wilde Westen. Dort soll es sogar eine gewisse Kultur geben. Ich möchte nicht, dass du verspottet wirst, Victoria. Nach diesem Abend wird das selbstverständlich niemand wagen. Du benimmst dich wie eine elegante, wohlerzogene Lady, und wir alle sind sehr stolz auf dich. Gewiss blickt deine Mutter lächelnd vom Himmel auf dich herab … Ah, da drüben ist Daniel. Er sieht deinem Vater gar nicht ähnlich, was?«
Mary Rose gab es auf, die komplizierten Gedankengänge ihrer Tante zu ergründen. Offenbar glaubte Lillian, ihre Nichte müsste sich schämen, weil sie so viele Jahre in den Bergen Montanas verbracht hatte, und sie wusste natürlich nicht, wie wundervoll das Leben dort war. Wie konnte sie auch? Mary Rose durfte ja nie davon erzählen.
Liebevoll wurde sie von Onkel Daniel umarmt, der wie alle anderen Mitglieder ihre Ähnlichkeit mit Agatha bewunderte. Sie mochte ihn, beschloss aber, noch ein wenig zu warten, bevor sie sich eine Meinung über Lady Johanna bildete. Sollte die Frau ständig an ihr herumnörgeln, so wie die anderen Tanten, würde sie Mary Roses Zuneigung bestimmt nicht gewinnen.
Wie immer, wenn sie nervös war, tastete sie nach ihrem Medaillon, um sich an ihre richtige Familie zu erinnern und Trost zu finden. Als sie die Saphire berührte, geriet sie beinahe in Panik. Dann holte sie tief Atem, verdrängte ihre alberne Angst und hörte Daniel zu, der den anstrengenden Familienurlaub in Südfrankreich schilderte.
Immer wieder schaute sie zu Harrison hinüber. Als sie sich endlich entschuldigen konnte, eilte sie zu ihrem Mann. Eigentlich wollte sie ihn bitten, nicht so finster dreinzuschauen. Aber in Gegenwart des fremden Gentleman mochte sie Harrison nicht kritisieren.
Sein Freund Nicholas gesellte sich hinzu, ein attraktiver, dunkelhaariger Mann, und stellte sich mit einer höflichen Verbeugung vor. »Darf ich Ihnen zur Hochzeit gratulieren, Lady Victoria? Ich wünsche Ihnen und Ihrem Mann das Allerbeste.«
»Danke, Sir.«
Er nahm ihren Arm und führte sie beiseite. »Sollen wir Harrison vor dem schlimmsten Londoner Klatschmaul retten?«
»Wie heißt dieser Mann denn?«
»Langweiler«, antwortete Nicholas, und sie brach in Gelächter aus.
Sofort verstummte sie, als sich mehrere Köpfe zu ihr wandten.
»Aber er scheint Harrison nicht zu langweilen.«
»Nein, Ihr Gemahl beherrscht sich mühsam.«
Wenig später wurde Mary Rose mit Sidney Madison bekannt gemacht, einem affektierten Gecken mit viel zu langen Fingernägeln, den sie auf Anhieb unsympathisch fand.
Während er seine Reise nach New York City schilderte, hängte sie sich bei Harrison ein. An ihrer anderen Seite stand Nicholas, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Der fröhliche Glanz in seinen Augen war erloschen, und er schien sich ebenso unbehaglich zu fühlen wie sein Freund, der mit bebenden Fingern ein Glas umfasste.
Bis jetzt war der Abend reibungslos verlaufen, und so sollte es auch bleiben.
Deshalb beschloss Mary Rose, einem Wutanfall ihres Mannes zuvorzukommen. »Darf ich kurz mit dir reden?«
»Oh, ich habe die Aufmerksamkeit ihres Gatten schon viel zu
Weitere Kostenlose Bücher