Rosen für Apoll
Unfreiheit oder Ungerechtigkeit ausgelöst wurde; es war ein Haß, der aus dem Zwerchfell kam, also von der Stelle, wo beim Pöbel die Seele sitzt.
An Themistokles wird zum erstenmal deutlich, daß das »Volk« in diesen Jahren jene berühmte Wandlung durchmachte, die nach Überschreiten des Zenits für jede Kultur kommt, jene Wandlung, die die Soziologen das »Mündigwerden der Masse«, die Psychologen den »inferioren Narzißmus« und die Philosophen die »Allergie gegen Qualität« nennen. Im Alten Testament heißt diese Situation der Sündenfall.
Die Weltgeschichte sucht sich für dieses »Mündigwerden« immer einen bestimmten Augenblick aus, ob es sich nun um 480 vor Christus oder um 1813 nach Christus handelt, nämlich den Augenblick der Rache. Der König, der Führer, der Feldherr, das Genie haben sich in der Not der Masse anvertrauen müssen; sie haben sich anbiedern müssen; sie haben die Rettung des Staatswesens nur noch mit dem »An mein Volk«-Appell bewerkstelligen können; sie haben es eingestehen, sie haben danken müssen — und nun präsentiert die Masse die Rechnung. Wie eine Sonne am Himmel geht ihr der erste Gedanke ihres Lebens auf: »Alle Räder stehen still, wenn mein starker Arm es will.«
Solche geistigen Wandlungen sind epochale Ereignisse. Zuspätgeborene, die sich dagegenstemmen, werden vernichtet, ehe sie es sich versehen.
Mit Themistokles ging die klassische Zeit zu Ende, die Zeit der Promethiden, der Könige, Tyrannen, Gaukler, Konquistadoren, Hexenmeister, Herkulesse, Räuber und Helden, Tragöden und Duzfreunde der Götter.
... wird Sparta durch ein Erdbeben fast zum Bettler und, Athen durch seine Seebund-Firma fast zum Milliardär. Hier wäre die Gelegenheit gewesen, Sparta total auszulöschen! Aber es hatte Glück, die Athener fühlten sich noch als Kriegskameraden und waren außerdem gerade mit etwas anderem beschäftigt: Sie probierten die erste Demokratie.
Es ist merkwürdig, daß Kaiser, Könige und Päpste im »Wir« sprechen und die Masse im »Ich«. Wie man das Wort »Wir« etymologisch auch drehen und wenden mag, es bleibt eben die Mehrzahlform, und das ist die Ironie daran. Sinngemäß sollte die Masse »Wir« und der Individualist »Ich« sagen. Daß es genau umgekehrt ist, muß seinen Grund in dem Versuch einer magischen Beschwörung haben. Das »Wir« der großen Einzelgänger ist der »Schreckputz«, wie die Ornithologen zu sagen pflegen, der Blähhals, mit dem sie die Masse einschüchtern wollen, denn sie ist ihr Gegner aus der schon erwähnten »unbewältigten Vergangenheit« des Cromagnonmenschen. Das »Ich« der Masse aber ist der fromme Wunsch, ein Individuum zu sein. Die Vertuschung der Ich-losigkeit.
Ganz schlaue Menschen sprechen daher, wenn sie auf dem Weg über das emanzipierte Volk an die Macht kommen wollen, weder in der einen noch in der anderen Form; sie sagen nicht: »Ich bin der Meinung« oder: »Wir erwarten«, sondern: »Das Volk ist der Meinung und erwartet.« Wer diese einfache Regel nicht kennt, kann in einer Spätzeit nicht hoffen, sich zu halten.
Insofern war Kimon, wenn wir es nicht sowieso schon wüßten, nicht schlau, sondern ein politischer Kindskopf. Das Zwerchfell des Volkes war ihm fremd. Und so traf es ihn, nachdem er am Eurymedon in Kleinasien noch einen glänzenden Sieg über die Restbestände der persisch-phönikischen Flotte erfochten hatte, ganz überraschend, daß ihn das Volk 461 durch Ostrakismos in die Verbannung schickte. Es genügten ja bei 6 000 abgegebenen Stimmen 3 001 Stimmen gegen ihn. Wenn von den zwanzigtausend Vollbürgern also ein Siebentel gegen ihn war, war er draußen. Langsam, nicht wahr, kommen einem Zweifel über den Wert des Ostrakismos. Wir werden noch erleben, daß er vollständig kaputt gemacht wird.
Der Sturz Kimons war eigentlich nur der logische Schlußpunkt hinter einen Irrtum. Kimon war keineswegs, wie er sich einbildete, der »neue Mann Athens« gewesen. Die neuen Herren mußten, der Entwicklung der Masse entsprechend, ganz anders aussehen, und sie sahen auch anders aus.
Obwohl also der Fall Kimons ganz zwangsläufig war, geschah er doch unter so interessanten, teils dramatischen, teils lächerlichen Umständen, daß ich sie Ihnen erzählen muß.
Wir müssen uns wieder einmal nach Sparta begeben.
Im Sommer 464 traf Sparta eine furchtbare Katastrophe: Ein Erdbeben zerstörte die Stadt bis auf den Grund. Das Unheil brach so plötzlich herein, daß die Menschen mitten in ihrem Tageslauf
Weitere Kostenlose Bücher