Rosenmörder (German Edition)
Augenzeugenbericht
ist jedoch nicht unumstritten.
Ein anderes stichhaltiges historisches Beweisstück findet sich in
den Akten eines ausführlich dokumentierten Prozesses, der 1433 gegen die
damalige Äbtissin geführt wurde. Sie hatte einen Sohn entbunden und ihn in den
unterirdischen Gängen in Tüchern gewickelt versteckt, sodass er starb. Die
Ordensfrau wurde verbrannt. Dass zu jener Zeit die Gänge – vermutlich die
Stollenkrypta mit Abzweigungen – existierten, darüber gibt es demnach
keinen Zweifel.
Ein uraltes Exemplar einer Schrift, in der Irmingards Amtszeit
verzeichnet ist, existiert noch heute. Darin werden die Äbtissinnen – »in
aller Zukunft« – zum Stillschweigen über die unterirdischen Gänge
verpflichtet. Nur in absoluten Notfällen dürfe man von deren Existenz Gebrauch
machen. Die Schrift befindet sich in keinem Museum und ist der Öffentlichkeit
nicht zugänglich. Sie ruht in einem meterdicken Safe im Gemach der Äbtissin des
Benediktinerklosters.
Berücksichtigt man die Wirren der Zeit, den Mangel an Quellen und
die Verschleierungsbemühungen der jeweiligen Äbtissinnen, wird sich aus
damaliger Zeit die Existenz der Gänge nie mehr genau nachweisen lassen.
Es ist ein Wink des Schicksals, eine Fügung Gottes, ein
Gottesurteil – je nach Auslegung –, dass die Existenz des Gangsystems
ausgerechnet durch moderne Probebohrungen entdeckt wurde, die vom Kloster
selbst in Auftrag gegeben worden waren.
Juana, die heutige Äbtissin vom Ordo San Benectini, setzte zwar alle
Hebel in Bewegung, um das über tausendjährige Mysterium zu bewahren. Doch sie
hatte nicht mit der Findigkeit Heinrich Eusers, des Redakteurs beim
Oberbayerischen Volksblatt, gerechnet. Jeder gute Journalist hat seine
Kontakte. Euser in diesem Fall zum Leiter des Bohrteams.
In der Folge fragte sich Euser, welche Bewandtnis wohl die
übermannshohe Mauer habe, die sich ostwärts des Friedhofs bis zum quer
liegenden Münster erstreckt und für Uneinsehbarkeit sorgt. Er fand heraus, dass
sich dahinter der Klausurgarten verbirgt, in dem die achtundzwanzig Schwestern,
die heute dort leben, sich meditierend ergehen und Fuß für Fuß ein von ihnen
neu geschaffenes Labyrinth abschreiten. Hinter einer weiteren dichten Hecke
verbirgt sich, angelehnt an die Ostwand des Münsters, der Schwesternfriedhof.
Man kann nur spekulieren, dass dort der verheimlichte Einstieg zu den
unterirdischen Gängen ist.
Euser ist sich dessen sicher. Eine Jahrhundertentdeckung! Im Text seines
Zeitungsartikels hat er dieses Geheimnis jedoch nicht gelüftet. Er berichtete
nicht öffentlich darüber.
Wie allerdings die Architekturzeichnung der Gänge
tatsächlich entstand, die Ottakring in Gubkins Schlösschen gefunden hatte,
wurde nie wirklich entschleiert, selbst im schärfsten Verhör nicht. Gubkin
blieb ebenso stumm wie die Männer des Entschärfungskommandos, wie
Oberstleutnant Soinwand und die Mitglieder der Rosenheimer Kripo. Selbst
Wildschitz hat nie gestanden. Äbtissin Juana hatte sich ihrer Verschwiegenheit
mit der Hand auf der Bibel versichert.
Der Zugang wird damit – so Gott will – auf ewig verborgen
bleiben. Doch dass es die Geheimgänge unter dem Kloster Frauenwörth tatsächlich
gibt, diese Kenntnis hat Gott freigegeben.
Hannsdieter Loy
ROSENSCHMERZ
Oberbayern Krimi
ISBN 978-3-86358-193-0
»Der Leser erkennt Land und Leute
wieder. Sehr oberbayerisch!«
Bayern 1
Leseprobe zu Hannsdieter Loy,
ROSENSCHMERZ
:
PROLOG
Der Tag, an dem die Frau sterben sollte, hatte zeitig
begonnen.
Magda war bei Dunst und Niesel um fünf Uhr in der Früh aufgestanden.
Draußen verwandelte der dünne Regen die Schneedecke in glitschig-eisigen
Matsch. Die Frau warf einen kurzen Blick ins Kinderzimmer, wo ihre
vierzehnjährige Tochter noch fest schlief. Sie ging in die Küche und klickte
auf Bayern 1.
»I liab di, Aal-pähn-ro-osn«, sang Niki Kirchbichler, der bekannte
Volksmusiksänger. Sie schob die Lippen vor, als ob sie schmollte, und summte
die Melodie mit. Nur jetzt, in der Früh, mochte sie solche Schnulzen hören,
später nicht mehr. Plötzliche Windböen ließen das Fenster erzittern. Sie warf
die Kaffeemaschine an. Frühstücken würden sie erst nach der Stallarbeit.
Draußen war es stockfinster. Als die Frau aus der Haustür trat, hörte sie ein
verschlafen-sehnsüchtiges Blöken aus dem Stall. Ihr Gesicht blieb halb im
Schatten. Der kalte, nasse Wind zerrte an ihren Kleidern. Sie zupfte an der
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