Rosenpsychosen
vorn, aber so, dass sie über den Sommer wieder den ganzen ›Faust‹ gelesen hatte. Sie kannte ihn auswendig. Es beruhigte sie, mit diesem Heftchen die Mitte des Jahres, die so etwas Freundliches und Ordentliches hatte, einzuleiten. Nach dem ›Faust‹ war vor dem ›Faust‹ und umgekehrt. Dazwischen war sie noch immer am Leben, das erstaunlicherwie letztendlich auch erfreulicherweise immer weiterging. Gegen das Leben verlor man haushoch, wie manch einer gegen den Tod. Man konnte es verwünschen und beschimpfen, das Leben, doch zäh und unbeirrbar führte es einen immer wieder in seichte Gewässer. Der ›Faust‹ war ihr nicht zu nehmen. Er war verlässlich, jedes Jahr unverändert gut. Verlässlich auch auf Seite null die große, ausgeschriebene Handschrift des Mannes, der »Berlin, Oktober 1963« hineingeschrieben hatte.
»Caipirinha?«, fragte Martin. »Nur hütet euch, dass ihr mir nichts vergießt!« Martin rollte mit den Augen.
Es war erst Anfang Juli, doch der Garten war schon trocken wie Ende August. Seit sechs Wochen hatte es nicht geregnet, und Martin hatte grundsätzlich etwas dagegen einzuwenden,eintausend deutsche Quadratmeter Natur künstlich zu bewässern, während man anderenorts kilometerweit laufen musste, um an nur zehn Liter Wasser zu kommen.
Die Hortensien aber, die Hortensien gönnte er Marie von Herzen. Mit Hortensien hatte alles angefangen. Marie hatte ihren neuen Nachbarn gebeten, ihre Hortensien zu gießen, während sie zusammen mit ihrem damaligen Freund, dem staatlich geprüften Bereiter, die Sommerfrische aufsuchte. Martin hatte Maries Hortensien ertrinken lassen. Sie habe schließlich gesagt, Hortensien könnten gar nicht genug Wasser bekommen. Er habe sein Bestes gegeben, hatte er ihr launig bedeutet, als sie wieder zu Hause angekommen war, braun gebrannt und blond und blauäugig, woraufhin Marie ihn gefragt hatte, ob das immer so ausgehe, wenn er sein Bestes gebe. Dann hatte sie sich, um ganz sicherzugehen, dass ihrem nicht im herkömmlichen Sinne schönen, aber durchaus attraktiven Nachbarn nichts entging, beiläufig umgedreht und sich zu einer ehemals blauen Hortensie hinuntergebeugt. Die Pirouette sei zwar schön, aber nicht nötig gewesen, hatte Martin sie Jahre später wissen lassen, als es für beide längst entbehrlich geworden war, Pirouetten zu drehen.
Zwei Wochen nach dem Hortensienexitus hatte sie Martin aus dem Bett geklingelt und erwähnt, sie habe heute ihren Eisprung, und wenn er sein Bestes gebe, könnten sie rasch ein Kind machen.
Ein schöner Anfang, dachte Marie und war gespannt, welches Ende die Sache einmal nehmen würde.
Helene ging die Post durch. Mit versierter Hand flogen die Rechnungen auf den Schreibtisch, die Werbung in den Müll oder knapp daneben und die privaten Sendungen auf das antike kleine Sofa, das keinem anderen Zweck mehr als dem Auffangen der Privatpost diente.
Olaf hatte eine Postkarte geschickt. Der Bodensee glänzte wie ein Versprechen, das niemals zu halten war. Und wenn er es doch hielt? Helene und die Jungs sollten im Sommer Olafs Gäste sein. Fünf Wochen mit Olaf in einer Villa am Bodensee. Personal, das kochte, hinter den Jungs herputzte und Olaf mit »Herr Professor« anredete. Ab und zu würde Herr Professor Olaf arbeiten müssen, aber in seiner Freizeit wollte er mit ihnen segeln gehen und Sonnenuntergänge beobachten, die kitschigsten ihres Lebens, das hatte er bereits zugesagt. Am Telefon hatte etwas sehr Verheißungsvolles in seiner Stimme gelegen. Wenn Helene wollte, konnte sie außerdem allein ins Landesinnere wandern, während er sich zusammen mit Trudi, seiner Haushälterin, um die Jungs kümmerte. Tagelang Fahrrad fahren würden sie. Und nachts, wenn Moritz und Fabian den Schlaf der Unschuldigen schliefen, würde sie mit Olaf schlafen. Und wie sie das würde! Kein Stoffhase würde mit ihr konkurrieren. Olaf war ein Mann, der kein Plüschtier im Bett brauchte, ein gut aussehender noch dazu. Ihre Neue würde solch ein Angebot sofort annehmen, auch wenn sie ihn nicht liebte. Aber bei ihr, Helene, war es ohnehin etwas anderes. Sie liebte Olaf ja. Doch, das konnte man so sagen. Nichts gegen eine Villa am Bodensee und Personal. Aber Olaf, der Mann, der Mensch, war allein schon der Grund für ihre Freude. Nur wusste er von alldem noch nichts. Und Helene wusste ebensowenig, ob er sie liebte.
Während Brütti tonnenweise Sand zum Plantschbecken schleppte, um einen Damm zu bauen, lag Pasi im Wasser und sah in den Himmel. Sie
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