Rosenpsychosen
Ihrem schlechten Gewissen gegenüber jedem Pflasterstein abzubringen ist eine gute Aufgabe.«
»Jaja, klar. Aber es gibt doch schwerwiegendere Probleme auf der Welt als meine. Und selbst wenn da irgendwas im Argen ist – ist denn Verdrängung nicht sogar ganz nützlich, ganz okay? Jeder hat doch etwas zu verarbeiten und zu verdrängen, oder?«
»Sie sagen es: zu verarbeiten. Genau das haben Sie eben nicht getan. Nichts haben Sie verarbeitet. Wenn Sie etwas verarbeitet haben, dann dürfen Sie es auch verdrängen. Aber einen Haufen Dreck einfach unter den Teppich zu kehren und jedes Mal beim Staubsaugen wieder mit ihm konfrontiert zu werden ist keine Verarbeitung und auch keine nützliche Verdrängung. Wenn Sie wissen, woraus der Dreck besteht, dann, erst dann dürfen Sie ihn zur Müllhalde bringen. Aber noch ist es umgekehrt: Der Dreck beherrscht Sie, und was wir erreichen können, wenn Sie wollen, ist das Gegenteil.«
»Mann, das haben Sie aber toll bildlich dargestellt.«
»Ich sag Ihnen mal, wie das ist in einer solchen Therapie: Wem kann man idealerweise alles sagen, alles anvertrauen? Wer ist immer für einen da? Wer stellt keine Bedingungen?«
»Hm … ein Goldhamster?«
»Die Mutter. Ich bin – stellvertretend – Ihre Mutter.«
»O Gott.«
»Stellvertretend, sagte ich.«
»Trotzdem. Das haut mich jetzt irgendwie um. Muss das sein? Also, dann sage ich gar nichts mehr. Und dann will ich auch meinen Fragebogen zurückhaben.«
»Zu spät. Aber da sind wir bei einem interessanten Thema angekommen. Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter?«
»Was hat denn meine Mutter damit zu tun? Kommt jetzt die Nummer mit der Muttermilch? Also, ich wurde gestillt, ganz sicher.«
»Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter?«
»Sehr gut.«
»Sehr gut. Also, Sie meinen liebevoll, verständnisvoll, warmherzig, ehrlich. Ist es so?«
»Was? Nein, ehrlich natürlich nicht. So ein Quatsch. Ich meine, wer ist schon ehrlich zu seiner Mutter? Und verständnisvoll, warmherzig – was sind das überhaupt für schwurbelige Worte! Na ja, liebevoll, ja, würde ich schon sagen. Aber ehrlich und verständnisvoll? Das ist ja wirklich der Witz des Tages. Ist doch nicht Ihr Ernst, dass ich meiner Mutter ehrlich und Verständnis heischend erzähle, mit wem und warum ich wen betrogen habe oder was in meinem Innersten abgeht, hm? Meine Mutter hat als Kind mit angesehen, wie ihre Mutter von den Russen vergewaltigt wurde. Dann haben sie ihren Vater verschleppt, und später ist ihr der Mann unter den Händen weggestorben. Soll ich ihr jetzt wirklich mit meinem Seelenkack kommen? Garantiert nicht!«
»Warum eigentlich nicht? Ihre Mutter ist ein Mensch, Sie sind einer. Die Bindung zwischen Mutter und Kind – das wissen Sie selbst – ist naturgemäß die stärkste, die es geben kann. Jetzt sind Sie erwachsen. Meinen Sie, Ihre Mutter kennt das Leben nicht auch jenseits von Krieg und Beerdigungen? Denken Sie wirklich, Ihre Mutter möchte von dem, wie Sie es nennen, ›Seelenkack‹ ihrer Kinder verschont bleiben?«
»Ja, glaube ich. Und ich glaube auch, dass meine Mutter andere Probleme und genug mit uns zu tun hatte. Alleinerziehend mit vier Kindern … Und übrigens – umgekehrt will ich auch nicht ehrlich mit allem behelligt werden, was meine Mutter umtreibt oder umtrieb. Wer weiß, was man da alles zu hören bekäme! Ich gehe eigentlich davon aus, dass meineMutter genau vier Mal im Leben Sex hatte, und den will ich mir nicht vorstellen.«
»Vielleicht hat sich Ihre Mutter auch einfach mal zum Spaß mit einem Mann getroffen – aus Leidenschaft, nicht unbedingt, um sich schwängern zu lassen. Sie ist doch eine Frau wie Sie und ich.«
»Das ist ja widerlich! Können wir vielleicht das Thema wechseln?«
»Wir müssen das nicht unbedingt vertiefen. Aber mich interessiert das Warum. Warum können Sie von Ihrer Mutter nicht erwarten, dass sie Sie versteht? Wie war es denn, als Sie noch ein Kind waren?«
»Ich kann das nicht. Ich kann einfach nicht schlecht über meine Mutter reden.«
»Sollen Sie auch nicht. Es tut der ehrlichen Liebe zu Ihrer Mutter keinen Abbruch, wenn Sie mir hier in diesem geschützten Raum von ihr erzählen. Warum können Sie von Ihrer Mutter nicht erwarten, dass sie Sie versteht? Wie war es, als Sie und Ihre Geschwister noch Kinder waren?«
»Hm. Gut, würde ich sagen. Meine Mutter war immer sehr nett zu uns.«
»Nett?«
»Ja, nett, Herrgottnochmal, was wollen Sie denn hören? Nett und gut, ja – sie
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