Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rosenrot ist mausetot - Kriminalroman

Rosenrot ist mausetot - Kriminalroman

Titel: Rosenrot ist mausetot - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: emons Verlag
Vom Netzwerk:
Schwester Graziella umgebracht. Um das zu erklären, Ihnen und mir, muss ich tief in meine eigene Vergangenheit zurückgehen.
    So. Sie haben Zeit. Na gut, die werden wir auch brauchen.
    Meine frühesten Kindheitserinnerungen sind die an eine heile Familie. Ich hatte Eltern, die sich liebevoll um uns Mädchen kümmerten und uns alles an Impulsen, Anregungen und Förderungen gaben, was wir wollten und brauchten. Lange bevor das auch für weiblichen Nachwuchs üblich wurde.
    Und ich hatte eine zwei Jahre ältere Schwester, die mein Ein und Alles war. Wir waren uns innig vertraut, teilten alles, unternahmen alles gemeinsam. Tatsächlich genau wie Schneeweisschen und Rosenrot. Seit mein Vater mir dieses Märchen zum ersten Mal erzählt hat, war für mich und genauso für meine Schwester völlig klar: Wir sind Schneeweisschen und Rosenrot.
    Bald nannten uns alle so. Das war nicht überraschend. Wir glichen äusserlich den beiden Märchen-Mädchen aufs Haar. Ebenso vom Charakter her. Graziella war in jeder Hinsicht nach aussen orientiert. Sie war schon in jungen Jahren eine begnadete Selbstdarstellerin und konnte auf die Menschen zugehen. Ich dagegen war introvertiert, oft in mich gekehrt und im Umgang mit Menschen scheu.
    Dieser Unterschied zeigte sich an unseren bevorzugten Aufenthaltsorten. Während ich die Innenräume mochte, und deshalb auch den Winter, weil man da meistens drinnen ist, war Rosenrot am liebsten draussen und mochte deshalb den Sommer am meisten.
    Ungeachtet solcher Differenzen blieben Rosenrot und ich während unserer Kindheit und Jugend unzertrennlich und waren ein Herz und eine Seele. Auch wenn es noch eine andere Wirklichkeit gab, die ich aber tief in meinem Inneren versteckt hielt. Nie liess ich mir etwas anmerken, schon gar nicht gegenüber meiner Schwester, und ich bin mir fast sicher, dass sie nie etwas gemerkt hat. Von meinen dunklen Gefühlen für sie.
    Es war nur ein dunkles Gefühl, dafür ein mächtiges: Neid. Seit ich mich erinnern kann, bin ich auf meine Schwester neidisch gewesen. Nicht, dass dieses Gefühl dominiert hätte, bewahre. Aber es war immer da. Rosenrot sah besser aus als Schneeweisschen. Sie sprühte vor kindlichem Charme, konnte alle um den Finger wickeln. Mit ihrer Lebenslust und ihrem sonnigen Gemüt stellte sie mich buchstäblich in den Schatten. Logisch, dass sie von allen Seiten mehr Aufmerksamkeit genoss als ich. Zudem war sie zwei Jahre älter als ich und mir damit in allen Belangen uneinholbar voraus. All das weckte meinen Neid.
    Sie meinen, solche kindlichen Gefühle seien normal und machten einen nicht automatisch zur Mörderin? Da haben Sie recht, aber hören Sie weiter.
    Als Kind wusste ich nicht, dass solche Gefühle normal sind. Dafür wusste ich, dass man nicht neidisch zu sein hat, ja, dass Neid eine Sünde ist. Gute Kinder aber begehen keine Sünden. Und gute Kinder waren wir, im Vorbild des Märchens ebenso wie in der Wahrnehmung durch meine Eltern. Also hatte ich gut zu sein. Das verbot es, eifersüchtig und neidisch auf meine Schwester zu sein.
    Also baute ich vor dieser dunklen Ecke meines Gefühlshaushaltes eine Mauer auf, um das Dahinterliegende nicht mehr wahrnehmen zu müssen. Jedes Mal, wenn ich wieder Neid auf Rosenrot verspürte, entsorgte ich das Gefühl hinter dieser Mauer. Der Haufen von entsorgten Gefühlen wuchs, und deshalb musste ich die Mauer davor ständig erhöhen.
    Das kann nicht gut gehen, ich weiss. Solcherart hinter einer Mauer des Verdrängens versteckte Gefühle sind nicht einfach weg. Sie sind immer noch da und entwickeln einen zunehmenden Drang, sich Gehör zu verschaffen. Notfalls lautstark. Ich habe diese Erfahrung gemacht. Schon als Kind. Immer wieder mal meldete sich dieser brennende Neid, und jedes Mal wurde es schwieriger, ihn hinter die Mauer des Schweigens zurückzudrängen. Dazu hatte ich Schuldgefühle, weil ich überhaupt so unpassende Gefühle hatte.
    Heute weiss ich, dass es keine unpassenden Gefühle gibt. Damals empfand ich es so, und der Kampf dagegen hat mich viel Kraft gekostet. Vielleicht begann ich deshalb, mich noch stärker in mich zu kehren. Andererseits hat mich dieser Kampf auch stärker gemacht. Ich entdeckte eine machtvolle und harte Seite an mir, die bisher verborgen geblieben war und für die ich einen gewissen Stolz empfand.
    Mein inneres Doppelleben dauerte unsere ganze Jugend hindurch. Nach der Schule waren wir notgedrungen weniger oft zusammen, aber nicht weniger miteinander verbunden. Schon

Weitere Kostenlose Bücher