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Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Arsenault
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Fußboden lag ein Ordner, aus dem Papier auf den beigefarbenen Teppich quoll.
    »Erinnerst du dich an den Tag mit dem Kassettenrekorder?«, fragte Charlotte und öffnete die Augen.
    »Ja, vage.«
    In dem Augenblick, in dem ich es aussprach, wurde mir bewusst, dass es das letzte Mal gewesen war, dass ich michin diesem Zimmer aufgehalten hatte – der letzte Tag, den ich bei Charlotte verbracht hatte, als wir noch Kinder waren. Wir hatten uns gestritten, und hinterher hatte ich sie nie wieder besucht.
    »Vage? Ich erinnere mich noch ganz genau. Du warst richtig komisch drauf an dem Tag. Weißt du noch, wie du meine Aufnahme vernichtet hast?«
    »Ja.«
    »Du bist total durchgedreht. Es war, als hättest du entschieden, dass wir ab sofort keine Freundinnen mehr waren.«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es entschieden hatte. So berechnend war ich als Kind nicht.«
    »Trotzdem war es von dem Tag an klar. Du wolltest nicht mehr rüberkommen, wolltest lieber für dich sein.«
    »Ich war halt ein seltsames Kind. Was soll ich da sagen?«
    »Mich hat es reichlich verwirrt, was damals passierte. Ich habe mich immer gefragt, was ich getan hatte.«
    Ich überlegte, wie wir darüber reden sollten. Ernst, wie Charlotte? Oder mit einer Art amüsierter Distanz, wie Toby über den Abschlussballabend hatte reden wollen? Gab es überhaupt eine passende Form, in der wir erklären konnten, wie wir als Kinder gewesen waren? Und was bedeutete diese Erklärung überhaupt heute noch?
    »Eine Weile, nachdem Rose verschwunden war, hast du dich verändert. Du wurdest komisch, warst auf einmal ganz still. Du ...«
    »Ich war schon vorher komisch, Charlotte. Das scheinen nur alle vergessen zu haben.«
    »Nicht so komisch, nein. Nora ...« Charlotte setzte sich auf und begann, eine Haarlocke um ihren Finger zu wickeln. »Hattest du Angst vor meinem Dad?«
    »Vor deinem Dad? Nein. Ich hatte Angst vor dir.«
    »Ich meine es ernst.«
    »Ich auch. Ich hatte Angst, dass du nicht aufhörst, bis ...«
    »Bis was, Nora?«
    »Bis ... ich weiß es nicht. Ich war ein dummes Kind. Und verwirrt. Du wolltest mich dauernd zum Reden bringen. Dabei hatte ich doch keine Ahnung, wie man über Dinge redet.«
    »Was für Dinge? Was war es, worüber du nicht reden konntest?«
    »Weiß ich auch nicht«, murmelte ich.
    Charlotte sah einen Moment lang aus dem Fenster. Ich blickte ebenfalls hinaus auf den Rasen, auf dem früher das Trampolin der Familie Hemsworth gestanden hatte. Wann hatten sie das wohl abgebaut, das Loch mit Erde zugeschüttet und den Rasen gesät?
    » Die Letzte, die sie lebend gesehen hat «, flüsterte Charlotte. »Das war es, was dich so fertiggemacht hat, oder? Und ich habe dich immerzu bedrängt. Schon klar. Es ging dir auf die Nerven. Aber an dem Tag, dem letzten Tag, damals, als wir gestritten haben: Was hast du da befürchtet? Was hätte ich dich zwingen können zu sagen?«
    Ihre Frage beschwor jenen Tag wieder herauf. Das letzte Mal, das ich in diesem Zimmer war. Merkwürdig, wie wenig es sich verändert hatte. Charlottes violetter Bettüberwurf mit Rüschen und die violetten Vorhänge waren fort – ersetzt durch schlichte Holzjalousien und eine minzgrüne Tagesdecke. Aber die Möbel standen noch genauso wie früher: das Bett am Fenster, der Schreibtisch neben der Tür. Der Teppich war immer noch beige. Alles roch noch nach Zigaretten.
    »Tu das nicht, Charlotte«, bat ich.
    »Geht es um meinen Dad? Hattest du Angst, ich wüsstenicht, dass er manchmal ein Arsch sein konnte? Hast du befürchtet, das wäre mir nicht klar? Oder war es etwas Schlimmeres?«
    Ich starrte auf das große freie Teppichstück in der Zimmermitte. Dort hatte ich immer meinen Schlafsack ausgelegt, wenn ich hier schlief. Dort hatte ich im Schneidersitz gesessen und meine Hausaufgaben gemacht oder in Charlottes schwarzen Büchern geblättert, mir meine Lieblingsbilder darin angesehen – die von den Statuen auf der Osterinsel.
    »Ach komm, Nora! Du warst die Letzte, die sie lebend gesehen hat. War es irgendwas Schlimmeres?«
    Die Letzte, die sie lebend gesehen hat. An dieser Stelle war ich damals geplatzt. An dem letzten Tag, den Charlotte und ich befreundet gewesen waren. Die Letzte, die sie lebend gesehen hat , hallte es durch meinen Kopf, bis ich es nicht mehr aushielt.
    »Etwas Schlimmeres?«, wiederholte ich. Vielleicht ein Kind ... ein Kind, das glaubt, das Richtige zu tun. Datsun gegen Dodge, eine Schrottkiste gegen eine andere.
    »Du bist nach all den Jahren wieder

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