Rosenrot, rosentot
...«
»Habt ihr? Das weiß ich gar nicht mehr.«
»Nicht immer. Wir waren nicht in derselben Clique, aber als Kinder waren wir befreundet gewesen. Du weißt ja, Rose war lieber mit Jungen zusammen als mit anderen Mädchen. Außerdem mochten die Mädchen sie nicht besonders.«
Ich sagte nicht, dass Charlotte und ich sie durchaus gemocht hatten. Da wir so viel jünger gewesen waren, zählte das wahrscheinlich nicht.
»Jedenfalls«, fuhr Joe fort, »hatte ich Glück, dass ich den ganzen Abend damals im Supermarkt Regale aufgefüllt habe, von drei Uhr nachmittags bis Ladenschluss. Sonst hätte die Polizei sicher eine Menge mehr Fragen gehabt. Die Polizei von Waverly mochte mich noch nie, und bevor Rose verschwand, hatten sie mich einmal mit Gras erwischt.«
»Ach ja?« Ich hatte wenig Erfahrung mit der Polizei vonWaverly, aber ich wusste, dass sie früher nicht sonderlich viel zu tun gehabt hatte. Daher war es einleuchtend, dass sie einem Kiffer wie Joe schon aus lauter Langeweile im Nacken gesessen hatte. »Aber in dem Fall ermittelt doch die Bundespolizei, oder nicht?«
»Ja«, gab Joe mir recht. »Wie auch immer, die haben eigentlich nichts Neues gefragt. Ich nehme an, dass sie jetzt – wo man weiß, dass Rose tot ist – noch einmal alles überprüfen müssen. Deshalb reden sie wieder mit denselben Leuten wie damals.«
»Gut möglich.«
Joe schüttelte den Kopf. »Arme Rose. Gott, das Mädchen war echt eine Marke für sich. Irgendwie war sie schon eine Irre, aber gerade das mochte ich an ihr.«
»Eine Irre?«
Joe trank von Tobys Bier, lehnte sich zurück und schloss kurz die Augen. »Ja, eine Irre. Zwar eine nette Irre, aber trotzdem bekloppt.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, erinnerst du dich zum Beispiel an die Einakter?«
»Ja.« Jeden Winter hatten die vierten Klassen je einen kurzen Einakter aufgeführt, und eine Lehrerjury hatte den besten prämiert. Die Siegerklasse bekam ein kleines Preisgeld vom Eltern-Lehrer-Verband, das sie für den Abschlussball oder etwas anderes verwenden konnte.
»Tja, Rose hatte diesen kleinen Auftritt am Ende. Da müssen wir in der zwölften Klasse gewesen sein, es war also das Jahr, bevor sie verschwand. Sie sollte eine Jacke anziehen – die gehörte zu ihrem Kostüm. Aber kurz bevor sie auf die Bühne ging, zog sie die Jacke aus, und darunter trug sie ein schwarzes T-Shirt mit einem neongelben Mittelfinger vorne drauf.«
»Ein T-Shirt mit einem Mittelfinger?«, wiederholte ich ungläubig.
»Ah, die frühen Neunziger«, sagte Toby, der die Geschichte eindeutig schon kannte. »Das Zeitalter von Spencer Gifts und schrillen Party-Outfits.«
»Merkwürdig«, sagte ich. »So etwas hätte ich ihr gar nicht zugetraut.«
»Nein, das hatte keiner«, bestätigte Joe. »Und gerade weil es so vollkommen unerwartet kam, war es so verflucht witzig.«
»Aha.« Ich bemühte mich, wenigstens ein kleines Lachen zustande zu bringen, doch es kam nur ein Hüsteln.
Joe runzelte die Stirn, dann kratzte er sich am Kopf. »Hmm, okay, ich lasse euch zwei mal lieber allein, damit ihr über alte Zeiten reden könnt.«
»Oh, du musst nicht ...«
»Falls du am Memorial-Day noch da bist, komm doch auf einen Hamburger bei uns vorbei. Wir grillen vielleicht.«
Mit diesen Worten kehrte er zu seinem Barhocker zurück. Als ich ihm zusah, wie er sich eilig von uns entfernte, musste ich daran denken, wann ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte: am Abend des Abschlussballs. Toby hatte mich mit zu sich nach Hause genommen; nach dem Ball und ein paar Wodkas auf dem Pausenhof der Grundschule von Waverly war ich ziemlich laut und albern gewesen. Wir hatten versucht, uns heimlich ins Haus zu schleichen, aber Joe war noch wach gewesen und hatte Goodfellas auf Video geguckt. Seine Augen hatten amüsiert gefunkelt, als er uns in unserer glitzernden Ballgarderobe sah und wir ihm unbeholfen erklärten, dass wir nur noch ein bisschen fernsehen wollten.
»Ich will sowieso gerade weg«, hatte er lächelnd behauptet, den Fernseher ausgeschaltet und sich seine Schlüsselgeschnappt, als würde er nachts um halb zwei irgendwo erwartet. Aber dann war er in der Tür stehen geblieben, sodass Toby und ich noch ein bisschen verlegener wurden. »Ich weiß, dass ihr beide nicht blöd seid«, hatte er gesagt. Es klang nicht vorwurfsvoll, sondern eher wie eine Feststellung. Trotzdem wollte ich damals am liebsten im Boden versinken. Ebenso gut hätte er uns ein Kondom in die Hand drücken und den Kopf tätscheln können.
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